In eisigen Kerkern (German Edition)
aufhalte, will ich in einem Hotel wohnen, und zwar in einem schönen. Das ist übrigens auch in Ihrem Interesse. Wenn man die Nacht in einem Zelt am Waldrand verbringt, riecht man am nächsten Tag nicht besonders gut, wie Sie vielleicht schon gemerkt haben.“
Die Herolder ließ ihr Wegwerffeuerzeug schnippen. Ein erster Rauchfaden stieg auf, und Nelli staunte, wie schnell der Qualmgeruch zu ihrer Nase gelangte, obwohl er doch nach oben abzuziehen schien.
„Hotel geht in Ordnung. Wir haben da was für Geschäftsbesucher zwei Straßen weiter. Ich schreib Ihnen eine Berechtigungskarte. Wenn Sie aber meinen, in den Interviewpausen München verlassen zu müssen, dann geht das voll auf Ihre Rechnung. Ebenso wie Hotel in den Pausen.“
„Wieso Pausen?“
„Ich hab auch noch andere Storys.“
„Und wann geht’s los?“
„Von mir aus morgen. Sofern ich das Okay für die 200.000 bekomme.“
Sie stand auf, schnippte die angerauchte Zigarette in den kleinen künstlichen See im Pflanzengrün in der Mitte des Atriums, und Nelli hörte das Zischen mit einer solchen Empörung, dass sie abgelenkt war und nachfragen musste:
„Was?“
„Morgen um neun beim Pförtner. Und wenn Sie schon vorhaben zu duschen, dann kaufen Sie sich ruhig auch mal ein paar neue Klamotten. Könnte sein, dass jemand von der oberen Etage dabei ist, wenn wir den Vertrag unterschreiben.“
Mit gemischten Gefühlen passierte Nelli die Glasschiebetür. Die Herolder hatte ihr ein Bestätigungsformular ausgefüllt, das es ihr ermöglichen sollte, an der Rezeption als Gast des Verlages einzuchecken – bargeldlos und ohne peinliche Fragen, wobei sie Nelli von oben bis unten gemustert hatte, als sei dies ein Service für besonders exzentrische Gäste.
„Exclusiv Hotel“, las Nelli auf dem Formular und betrachtete die Bilder: glänzende Fassade mit Balustrade, darunter ein vorfahrender Porsche; luxuriös ausgestattete Lobby mit Edelholz und verschwenderischem Grünpflanzenschmuck; Blick in eines der Zimmer mit Doppelbett, Großbild-Flatscreen, Leseecke mit Sessel und Stehlampe; offene Tür zur Terrasse, Wellness-Bereich mit Pool. Na, die würden sich über einen Gast wie sie bestimmt sehr freuen. Vielleicht sollte sie sich doch erst mal wenigstens mit neuen Klamotten ausstatten?
Nein, erst duschen und das Fahrrad sicher parken. Zum Einkaufen dann mit dem Bus. 200 Euro in bar hatte sie für diesen Zweck bekommen – nicht gerade üppig.
Nelli wollte den Briefumschlag mit Geld und Bestätigungsformular für den Weg ins Hotel in ihren Bauchbeutel stecken, da sah sie im Augenwinkel etwas, das ihre Aufmerksamkeit weckte, das ihr bekannt vorkam. Sie blickte auf und zur Seite. Eine hellgrüne Ente parkte schräg gegenüber. Hinter dem Seitenfenster erkannte sie Rolfs Milchgesicht. Er hatte zu ihr herüber gesehen und sie beobachtet. Als er sich ertappt sah, versuchte er hastig, den Motor zu starten.
Nelli lehnte ihr Fahrrad an die Einfassung der Rasenfläche vor dem Verlagsgebäude, drehte sich weg, hörte es scheppernd umfallen, fluchte, aber rannte trotzdem los.
Rolf gelang es nach langem Orgeln, den Motor zu starten. Ruckend und schaukelnd lenkte er sein Gefährt aus der Parklücke. Als Nelli gerade den Mittelstreifen der Straße erreichte, sah sie die Ente nur noch von hinten und hörte den Motor jaulend beschleunigen, als ginge es um Leben und Tod. Erst als die kleine grüne Karre nur noch ein Fleck zwischen anderen bunten Tupfern im Verkehrsgewühl war, fiel ihr das Nummernschild ein. Wieder nicht aufgepasst! Aber diesmal ging es nicht um eine Entschuldigung ihrerseits.
Von Autos umtost blieb Nelli noch eine ganze Weile mitten auf der Straße stehen und starrte in die Ferne. Ein Scheißgefühl war das. Es war das Andi-Gefühl: belauert und verfolgt werden, in die Enge getrieben, fest verschnürt und zum Objekt degradiert, ignoriert und herumgestoßen – Todesangst.
Nelli blies die Luft aus, schüttelte energisch den Kopf. Blödsinnige Ängste in diesem Zusammenhang. Das war kein Monster wie Andi, sondern ein zu groß geratener kleiner Junge, der sich ausgenutzt und im Stich gelassen fühlte, mehr nicht. Der Schreck, von ihr ertappt worden zu sein, würde ihn aus der Stadt und nach Hause treiben. Den würde sie, hoffentlich, nie wiedersehen. Hoffentlich!
Der Vertrag war fünf Seiten lang und in winziger Schrift gedruckt. Nelli schaute flüchtig drüber, wollte schon den Stift an der gestrichelten Linie für die Unterschrift ansetzen,
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