In eisigen Kerkern (German Edition)
zulangen. Das verstehen Sie doch?“
Nelli verstand. Ganz träge verstand sie mit ihren Wackelpuddinggedanken, dass dieser Mann plapperte, weil er nervös, peinlich berührt und voller Schuldgefühle war. Seine Munterkeit war aufgesetzt, er wollte sie mundtot schwatzen. Er hatte ihr Kommen geahnt, Ausschau gehalten, war herausgeeilt, um zu vermeiden, dass sie eintrat und drinnen eine Szene machte.
Wie damals: das Haus, die Gäste, der Wirt. Ihr verschwundenes Fahrrad. Nelli musste schnell zu ihrem Fahrrad schauen, um sich zu versichern, dass es da war. Dass es jetzt war, heute, Gegenwart – und nicht damals. Dass ein schamloser, aber harmloser Abzocker vor ihr stand und nicht der verschlagene, heimtückische, klapperschlangenartig-gefährliche Andi.
„Hotelier in dritter Generation“, wiederholte Nelli.
„Sie sind sauer, stimmt’s?“
„Sauer?“, wiederholte Nelli. „Ich weiß nicht. Ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll. Ich hab es nicht gewusst, das hier, was Sie da... aufgezogen haben. Eigentlich wollte ich mir das Haus noch mal anschauen und den Gletscher, um alles zu verarbeiten. Ich dachte, es steht jetzt leer oder was weiß ich, keine Ahnung.“
„Verarbeiten, sehen Sie, so muss man das betrachten. Mir kommt da gerade eine verrückte Idee. Total verrückt, aber für uns beide auch total lukrativ. Wollen wir hier...?“
Er deutete auf ein paar Stühle und Tische, die zwischen Parkplatz und Haus unter einem Sonnenschirm arrangiert waren wie zu einer Art Mini-Biergarten.
„Schauen Sie, ohne entsprechende PR würde dieser herrliche Ort hier oben verkommen“, erklärte Wächter beim Hinsetzen. „Seit es den Autobahntunnel gibt, kommt niemand mehr die Passstraße hoch, es sei denn, man bietet ihm was als Anreiz.“
„Ich weiß“, sagte Nelli. Der Sitz war eiskalt an ihrem verschwitzten Hinterteil. Sie legte die Hände unter. „Andi hat mir das alles schon erklärt.“
„Richtig, Sie wissen schon sehr viel. Arbeiten Sie doch hier oben mit!“, forderte Wächter unvermittelt.
„Ist das Ihre total verrückte, ach so lukrative Idee?“
„Na klar! Sie übernehmen die Führungen und erzählen Ihre Geschichte. Die Gelegenheit ist ideal. Wir könnten das gleich in der Serie in dieser Frauenzeitschrift bewerben.“
„Die haben Sie also bereits gesehen.“
Er grinste geschmeichelt.
„Übers Internet, ja. Ich habe vorige Woche Satelliten-Empfang einrichten lassen. Man muss doch auf dem Laufenden sein. Also, was ist?“
Nelli zog ihre kalten Hände unter ihrem kalten Hintern hervor und versuchte sie mit verschränkten Armen zu wärmen.
„Soll ich Ihnen eine Jacke holen?“
„Schon gut. Mal was anderes, ich habe gehört, Andis Leiche sei verschwunden. Was sagt man denn hier in der Region darüber?“
Wächters Begeisterung kühlte deutlich ab.
„Das ist eher nicht so gut fürs Geschäft.“
„Ach ja?“
„Die Leute wollen Angst aus zweiter Hand, aber sich nicht selber bedroht fühlen und fürchten müssen. Der Gedanke, dass der Kerl sich womöglich noch hier oben herumtreibt, schreckt ziemlich ab. Eigentlich kommen bloß Leute hoch, die das noch nicht wissen.“
„Glauben Sie wirklich, dass er noch leben könnte?“
Wächter zuckte mit den Schultern.
„War ein verdammt zäher Hund. Und wenn sich einer hier oben auskennt, dann er. Könnte hier überleben und sich versteckt halten, so lange er will, den findet keiner. Selbst wenn er wieder anfängt, sich Leute zu holen. Sie wissen schon.“
Nelli schüttelte unschlüssig den Kopf.
„Die Polizei ist überzeugt, dass er tot ist. Aber wer könnte dann seine Leiche haben?“
„Die Polizei, hören Sie doch auf! Die machen mir bloß Schwierigkeiten. Wissen Sie, dass die Andis Tunnel gesprengt haben?“
„Gesprengt?!“
„Nicht mit Dynamit, aber sie haben den Zugang zum Einsturz gebracht. Unsere Tour führt deshalb nur bis zum Gletscher. Wir dürfen die Leute nicht mal absteigen und ans Eis heranlaufen lassen. Die Auflagen, mit denen wir hier zu kämpfen haben, sind einfach unbeschreiblich.“
„Streng genommen, ist der Gletscher ein Massengrab“, sagte Nelli leise.
„Unsinn, es gibt ja keine Toten mehr hier. Die Leute sind längst in ihrer jeweiligen Heimat in allen Ehren bestattet worden. Ein Mordschauplatz ist das, zugegeben, aber wo wäre es schon vorgekommen, dass man Mordschauplätze für alle Ewigkeiten für die Öffentlichkeit sperrt?“
Er begann sich ernsthaft zu ereifern, und Nelli wurde unwohl.
Weitere Kostenlose Bücher