In eisigen Kerkern (German Edition)
Sie wandte den Kopf ab zur Straße, wo gerade ein VW Golf mit italienischem Nummernschild auf den Parkplatz einschwenkte und auf dem Kiesuntergrund mit knirschenden Reifen zum Stehen kam. Wächter schaute blicklos in den Himmel und griff sein Thema wieder auf.
„So was geht einfach nicht, schon gar nicht in Zeiten und Gegenden, in denen der Tourismus so rückläufig ist wie hier. Die Leute brausen ja alle nur noch vorbei, seit es den Autobahntunnel gibt.“
Zwei junge Frauen stiegen aus dem Golf, in fröhlicher Ferienlaune miteinander schwatzend.
„Die kommen auch nur wegen der neuen Attraktion hier hoch, wetten?“, fragte Wächter, der Nellis Blick gefolgt war.
„Woher wissen die das eigentlich alle?“, fragte sich Nelli laut.
„Vor allem aus dem Internet, schätze ich“, grummelte Wächter. „Deshalb sind es auch so viele junge Leute. Hab mir von Profis ne Website machen lassen. Mit Straßenschildern dürfen wir leider nicht werben. Noch nicht.“
„Was wäre eigentlich, wenn ich als Hauptbetroffene sagen würde, mir gefällt das nicht? Wenn ich dagegen klagen würde?“
„Keine Chance. Hab mich da schon abgesichert. Sehen Sie, was wir hier machen hat die gleiche Rechtsgrundlage wie die eines Wachsfigurenkabinetts.“
Er griff mit Daumen und Zeigefinger einen seiner Nasenflügel und zog heftig daran wie um sich zu kratzen, wischte noch einmal über den anderen Nasenflügel und fuhr fort:
„Da kann auch niemand sagen, der sich für einen Betroffenen hält: He, die machen mit Jack the Ripper ihren Reibach, ich will das nicht.“
„Da gibt es einen gewaltigen Unterschied.“
„Dass der Ripper viel weiter zurückliegt, schon klar. Aber bevor Sie protestieren, informieren Sie sich doch erst mal, bitte. Sie kennen ja unseren Betrieb noch gar nicht. Kommen Sie.“
Er stand auf und winkte Nelli zu.
„Urteilen Sie erst, wenn Sie alles gesehen haben.“
Nelli folgte ihm, einerseits widerwillig, andererseits ganz froh, sich im Haus aufwärmen zu können.
„Mein Fahrrad...“
„Schieben Sie’s mit rein, man weiß ja nie.“
Erst als Nelli das Fahrrad vom Ständer genommen, mit Wächters Hilfe die eine Treppenstufe vor dem Eingang hochgehoben und schon halb ins Haus geschoben hatte, überkam sie mit Wucht die Panik, eine tief sitzende Angst vor diesem Haus, in dem sie so viel erlitten hatte.
„Sie müssen sich Ihrer Angst stellen“, sagte Wächter, als habe er ihre Gedanken erraten, und betrachtete interessiert ihr Verhalten. „Deswegen sind Sie doch hier, oder?“
Nelli atmete stoßweise und presste die Lippen zusammen. Sie begann an ihrem Fahrrad zu ziehen, wollte es aus dem Haus wieder heraushaben. Wächter, der es am Lenkrad hielt, stemmte sich sanft dagegen. Nelli sah die Tür zu Andis „Privat“-Raum. Als sie zuletzt hier gewesen war, hatte er sie gefesselt und über die Schulter geworfen hinausgeschleppt. „Lebendkonserviert“, hatte auf dem Lageplan seines Tunnel-Labyrinths neben ihrem Namen gestanden. Eine Nische in diesem Labyrinth war für sie reserviert gewesen, ein Diorama. So kalt war es gewesen. Damals. Vor gerade mal drei, vier Wochen.
Nelli schüttelte den Kopf und zog fester an ihrem Fahrrad.
„Ich kann das nicht.“
„Klar können Sie. Eine so mutige, tapfere Frau. Sie stecken das weg.“
Die Wirtsstube ging auf, und die kleinere der beiden Italienerinnen kam heraus. Der Weg zum WC war zwar frei, aber sie stutzte über die seltsame Fahrrad-Blockade der Eingangstür. Hinter sich hörte Nelli Stimmen näher kommen. Ein Auto hatte gehalten, Leute kamen heran, blieben hinter ihr stehen. Sie vernahm Lautäußerungen des Erstaunens. Wächter schien der Auflauf zu gefallen.
„Ich stecke was weg?“, fragte Nelli und merkte, dass sie wütend wurde. Die Angst ließ nach. Sie wollte ja wirklich da rein und sich durch Vergangenheitsbewältigung befreien, aber sie wollte sich nicht von diesem Typen wie ein Kind beschwatzen und dazu nötigen lassen.
„Die Konfrontation“, sagte Wächter leise. „Stellen Sie sich. Danach geht’s Ihnen besser.“
„Was ist denn da eigentlich los?“, fragte von hinten eine Männerstimme. Die Italienerin stand noch immer da und starrte. Sensationslüsternheit meinte Nelli in ihrem Blick zu lesen. Sie schien auf dem Sprung, ihre Freundin zu rufen, um sie an dem Schauspiel teilhaben zu lassen.
Nelli wollte kein Schauspiel. Sie hörte auf zu zerren und schob statt dessen – so plötzlich, dass Wächter fast nach innen stürzte. Wo
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