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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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wäre vielleicht nie etwas ans Licht gekommen.
    »Das ist es auch so nicht«, murmelte Solowjow, während er die kurze Information über den Brand im Kinderheim Dawydowo überflog. So viele Leute haben davon gewusst und geschwiegen. Wachleute, Zimmermädchen. Der Arzt im Kinderheim. Die Kinder wurden regelmäßig medizinisch untersucht. Aber alle haben geschwiegen.
    Zu Sowjetzeiten existierten überall im Land geheime Bordelle mit Saunen und mit Mädchen, die der Partei- und Staatselite halfen, sich zu entspannen, sich von ihren wichtigen Staatsangelegenheiten zu erholen. Die Mädchen waren ausgewählte, zuverlässige KGB-Kader, mitunter sogar im Offiziersrang. Und ausnahmslos volljährig.
    Mit Kindern hatte sich seinerzeit Lawrenti Berija ungeniert amüsiert. Später, unter Chruschtschow, Breshnew und Gorbatschow, hatte es dergleichen nicht mehr gegeben. Zumindest nicht, soweit Solowjow wusste.
    Er kniff die Augen zusammen und presste die Hände auf die Schläfen. Matwej Groschew. War der Name im Zusammenhang mit
Verbene
aufgetaucht?
    Nein, es ist nicht nur der Name, dachte Solowjow, ich kenne den Mann, ich bin ihm schon einmal begegnet.
    Bei Lobows Worten »ein imposanter Mann, attraktiv wie ein Hollywoodstar« hatte Solowjows Gedächtnis eine verschwommene Erinnerung heraufbeschworen: Ein Gesicht, eine Gestalt, einen hellgrauen Anzug, ein charmantes Lächeln, eine tiefe, samtige Stimme, ein Glas Sekt in der Hand.
    »Moment, lassen Sie uns zunächst die Grundbegriffe klären. Was ist das überhaupt – Moral, Ethik? Im alten Ägypten war Moral etwas anderes als im antiken Rom oder im mittelalterlichen Europa. Der französische Adlige und Marschall Graf Gilles de Montmorency-Laval, Baron de Rais, ein Kampfgefährte der Jeanne d’Arc, wurde von der Inquisition nicht deshalb verurteilt, weil er in seinem Schloss dreihundert Knaben eingenhändig getötet hatte. Sexuelle Motive galten damals, im Jahr 1440, als mildernde Umstände. Gehängt und anschließend verbrannt wurde der Marschall wegen seiner Beschäftigung mit Alchemie und schwarzer Magie, dafür, dass er einen Pakt mit dem Teufel eingegangen war. Die Knaben kümmerten das Gericht gar nicht.«
    Solowjow klatschte in die Hände, und die Müdigkeit war wie weggeblasen. Er erinnerte sich nun nicht nur, wo, wann und unter welchen Umständen er Herrn Groschew kennengelernt hatte, sondern auch daran, worüber sie gesprochen hatten.
    Vor zwei Jahren hatte der stellvertretende Minister aus Anlass seines sechzigsten Geburtstags einen Empfang gegeben. Auch Solowjow war eingeladen gewesen. Bei derartigen Veranstaltungen, die sowohl offiziell wie quasi privat waren, fühlte er sich immer unbehaglich und fehl am Platz. Er schlenderte mit seinem Glas ziellos umher und wollte schon unauffällig verschwinden, als er mit Groschew zusammenstieß.
    Wie sie auf das Thema Moral und Ethik gekommen waren, wusste Solowjow nicht mehr. Aber er erinnerte sich genau,dass er im Laufe des Abends registriert hatte, dass den stellvertretenden Minister und den sympathischen Herrn im hellen Anzug offenbar eine langjährige Freundschaft verband. Sie duzten sich, und im Blick und in der Stimme des Jubilars schien etwas Devotes zu liegen, als er einen Toast auf seinen alten Freund Matwej Groschew ausbrachte, einen treuen und zuverlässigen, klugen und gebildeten Mann.
    Übrigens war dieser stellvertretende Minister damals in den Fall
Verbene
verwickelt gewesen und schließlich zurückgetreten.
    »In den alten heidnischen Kulturen galt es als durchaus moralisch, Kinder zu opfern. Die Religion ist ein ewiger Handel der Menschen mit Gott, und Kinder waren dabei lange eine zuverlässige Währung. Eine gigantische kupferne Figur des Gottes Kronos in Kathargo war so konstruiert, dass ein Kind, das man auf die Hand des Idols legte, in eine Feuergrube fiel. Ein lebendes Kind, wohlbemerkt. Der phönizische Gott Baal, der im Buch des Propheten Jeremias erwähnt wird, forderte als Opfer die liebsten Kinder edler Familien, und Moloch, ebenfalls eine phönizische Gottheit, ist das Symbol der rituellen Kindstötung schlechthin.«
    Herr Groschew war gebildet und charmant. Er war mit Solowjow ins Gespräch gekommen, weil ihm der Kriminalist zufällig über den Weg gelaufen war und weil er im Gegensatz zu den anderen Gästen relativ nüchtern war und zuhören konnte.
    »Sie meinen, er könnte es sein? Der Würger? Moloch?«
    »Ich weiß es nicht. Ich bin alt. Denk nach, Dima.«
    Jeder andere, aber nicht er.

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