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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Solowjow zog die Brauen zusammen und rieb sich die Augen.
    Die Leiche des ersten Mädchens war eine Woche nach jenem Empfang gefunden worden. Er konnte sich Groschew einfach nicht bei einem Ritualmord im Wald vorstellen. Der Tenor seiner Monologe lief darauf hinaus, dass der Mensch ein bösartiges und primitives Tier sei, allein von Instinktengelenkt. Moral und Ethik seien ein scheinheiliges Bündel von Verboten, eine amorphe Substanz, die sich ständig verändere und keine feste Basis habe.
    Er warf mit Fakten und Namen aus der Weltgeschichte um sich. Er wusste Bescheid über alles, was mit rituellen Kindstötungen zu tun hatte.
    Na und?
     
    Um halb zwei kam eine E-Mail von Anton Gorbunow mit allen Daten, die er aus den Anruflisten in Shenja Katschalowas Telefon hatte ermitteln können.
    Solowjow interessierten vor allem die Anrufe am Tag vor dem Mord. Es waren nicht sehr viele – acht von Shenjas Mutter, einer von Irina Drosdowa, gemeldet in Bykowo bei Moskau – das war Ika. Shenja hatte sie zurückgerufen und dreieinhalb Minuten mit ihr telefoniert. Ihre Mutter dagegen hatte sie nicht ein einziges Mal zurückgerufen.
    Ein Anruf von Valentin Kuwajew. Auch ihn hatte Shenja zurückgerufen; seine Nummer war in ihrem Telefonbuch unter den lateinischen Buchstaben VAZ gespeichert – das war Vaselin.
    Drei Anrufe von Boris Rodezki, geboren 1944, wohnhaft in Moskau. Zwei davon hatte Shenja angenommen. In ihrem Telefonbuch stand die Nummer nicht.
    »Einundsechzig Jahre alt«, murmelte Solowjow. »Shenja hat keinen Verwandten, der so heißt. Aber dieser Rodezki war der Letzte, mit dem sie telefoniert hat, etwa zwei Stunden vor ihrer Ermordung.«
     
    Zwei Stunden, vielleicht auch länger, streifte der Wanderer durch die Stadt, weil er nicht gleich in sein Auto steigen wollte. Es gab noch immer eine geringe Möglichkeit, dass der alte Lehrer erneut auf den Balkon herauskam. Das Auto stand unter einer Straßenlampe. Womöglich merkte sich Rodezki Farbe, Typ und Nummer. Schließlich hatte er den Wanderergesehen, als er die Straße überquerte. Zwar hatte er in ihm bestimmt nicht seinen späten Besucher erkannt, aber besser kein Risiko eingehen.
    Der Bezirk kam dem Wanderer vage bekannt vor, er musste hier schon einmal gewesen sein.
    Plötzlich traf ein scharfer Hominidengeruch seine Nase. Direkt vor ihm tauchte ein Geschöpf aus einem dunklen Torbogen. Von hinten sah es aus wie eine übergewichtige Minderjährige. Kurzer Mantel, die dicken Schenkel in glänzenden schwarzen Strumpfhosen, durch ein Loch in Höhe der Kniekehle schimmerte ein Oval weißer Haut. Die hohen Absätze waren schiefgetreten. Ein kleiner Kopf mit kurzem, schwarzweiß gefärbtem Strubbelhaar.
    Die Minderjährige murmelte im Gehen vor sich hin. Als der Wanderer sie eingeholt hatte, vernahm er leises obszönes Fluchen. Sie war sauer, weil sie keine einzige Nadel mehr hatte.
    Der Wanderer drehte sich um und sah ihr Gesicht. Nein, sie war nicht minderjährig. Sie war neunzehn, zwanzig. Drogen, Alkohol und Unzucht hatten die letzten Spuren von Attraktivität verbannt. Ihre Augen und Lippen waren nachlässig geschminkt, und sie hatte kaum noch Haare. Sie bemerkte seinen Blick und lächelte. Einige Zähne fehlten. Das Echo der Todesklage des Engels wurde immer deutlicher. Sollte er sie vernichten? Sie war bereits ein lebender Leichnam. Sollte er sie bestrafen für den zugrunde gerichteten Engel?
    Seine Trommelfelle schienen zu pulsieren, als wollten sie platzen. Tak-tak-tak. Ein tickendes Uhrwerk. Er begriff nicht gleich, dass das Pulsieren nicht in ihm war, sondern außen. Rasche Schritte hinter ihm, das weiche Trippeln von Kinderfüßen.
    »Mama! Mamotschka!«
    Ein kleiner Junge, höchstens vier Jahre alt, lief auf die Hominidin zu. Sie blieb stehen und drehte sich um. Ihr aufgedunsenes Gesicht spiegelte weder Erstaunen noch Erschrecken. Höchstens Ärger.
    »Verdammt, was willst du, Petja? Geh nach Hause, du erkältest dich.«
    »Komm mit, Mama.« Der Junge zerrte an ihrem Ärmel, so heftig, dass sie sich auf ihren Stöckelschuhen kaum halten konnte.
    »Wohin? Lass mich los! Ich muss in die Apotheke, ja, Medizin holen. Nun lass schon los, Petja, verdammt!«
    »Mama, Ljuda weint, Onkel Kolja, der hat sie …«
    »Sei still! Schrei hier nicht die ganze Straße zusammen!« Sie schlug ihm mit der flachen Hand heftig auf den Mund.
    Der Junge wiegte den Kopf und schluchzte.
    »Komm mit nach Hause, Mama, schick den Kolja weg, nimm kein Geld von ihm, schick ihn

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