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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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allabendlich ausführlich seinen Tag. Das hatte sich auch auf die Kinder vererbt, die zwölfjährigen Zwillinge Andrej und Katja. Die beiden redeten meist gleichzeitig. Sie gingen in dieselbe Klasse und reagierten auf ein und dieselben Ereignisse ganz entgegengesetzt. Was Katja schrecklich fand, reizte Andrej zu schallendem Gelächter.
    »Sie sehen aus wie ein kleines Mädchen, das sich Lidschatten angemalt hat und ein strenges Gesicht macht, damit man sie in einen Erwachsenenladen reinlässt. In einen Sexshop. Oder in einen Nachtklub mit Männerstriptease. Aber Sie sind eine ehrbare Mutter und Ehefrau. So etwas würden Sie sich nie erlauben. Geben Sie zu, Sie haben ihre Ehrbarkeit schon lange satt. Dieser Gedanke beschämt Sie und macht Ihnen Angst. Sie fürchten sich vor sich selbst. Übrigens leiden Ärzte laut Statistik am häufigsten unter den Krankheiten, die sie selbst zu heilen versuchen. Onkologen haben Krebs, Psychiater werden verrückt. Woran mögen wohl männliche Gynäkologen leiden? Oh, ich weiß! Sie werden entweder impotent oder sexuelle Psychopathen. Wobei das eine das andere nicht ausschließt.«
    Olga erinnerte sich plötzlich genau, dass sie an dieser Stelle dachte: Unter der Gürtellinie. Sie war sich fast sicher gewesen, dass sein Monolog früher oder später in diese Richtung abgleiten würde – Gynäkologie, Impotenz, sexuelle Psychopathen. Sie wusste noch nichts über diesen neuen Patienten, argwöhnte aber bereits nach den ersten zehn Minuten Gespräch, dass er nicht der war, für den er sich ausgab. Er litt keineswegs unter Amnesie, und die reaktive Psychose, mit der man ihn in die Klinik eingeliefert hatte, war gekonnt simuliert.
    »Ich weiß absolut nichts über mich, die Fragen können Sie sich sparen«, erklärte er. »Auf mich stürmen eine Menge Gedanken ein, aber die haben nichts mit mir zu tun. Ich denke an Sie, Frau Doktor. Darüber kann ich mit Ihnen reden, wenn Sie wollen.«
    Im Durchgangshof brannte keine einzige Lampe. Im schmalen Torbogen des alten Hauses war ein einziges Fenster. Durch dicke Schmutzschichten drang Licht, so schwach, dass der Schein nicht einmal bis zur gegenüberliegenden Wand reichte. Olga wusste, dass hinter diesem Fenster ein kleines Zimmer lag, das nichts enthielt als stinkende Matratzen und einen zerschrammten Hocker. Auf dem Boden lagen Lumpen und Zeitungspapier herum. Auf den Matratzen schliefen unter Lumpen zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Der Junge mochte etwa vier sein, das Mädchen höchstens zwei. Sie hatten eine Mutter, die Väter wechselten jeden Monat.
    Letztes Jahr, im Frühherbst, war Olga ebenso wie jetzt nach Mitternacht auf dem Heimweg von der Arbeit gewesen, als sie im Torbogen von einer Kinderstimme angesprochen wurde.
    »Tante, bring uns bitte nach Hause.«
    Sie hatte die beiden, die auf dem nackten Asphalt an der Wand saßen, nicht gleich erkennen können und darum ihr Feuerzeug aus der Tasche geholt und angezündet.
    »Auf der Treppe ist es dunkel, wir haben Angst.«
    Gesprochen hatte der Junge. Das Mädchen war so klein, dass Olga fast staunte, dass es schon allein laufen konnte.
    »Mama ist da drüben auf dem Hof mit den Onkeln, sie sind alle betrunken, aber wir wollen schlafen«, erklärte der Junge. »Wir wohnen hier, im dritten Stock.«
    »Wie alt bist du?«, fragte Olga.
    »Dreieinhalb. Ich heiße Petja. Und das ist Ljuda. Sie ist ein Jahr und vier Monate.«
    »Soll ich euch nicht lieber zu eurer Mama bringen?«
    Hinter dem Torbogen, in einem Winkel des schmutzigen Hofs, tönten betrunkene Stimmen und lautes Gelächter.
    »Nein. Wir wollen schlafen.«
    Der Junge umklammerte ihre Hand.
    Zum ersten Mal betrat Olga den Hauseingang, den alle anständigen Mieter der umliegenden Häuser mieden. Gestank, Dunkelheit und Kälte. Das Gas in ihrem Feuerzeug ging zu Ende. Die Flamme zitterte und flackerte und taugte nicht zum Leuchten.
    »Hier ist eine Stufe kaputt«, warnte Petja.
    Olga hätte nicht sagen können, wer wen in die dritte Etage brachte.
    »Wir sind da, Tante. Mach du Licht an, ich komme nicht an den Schalter.«
    Olga warf einen Blick in die Küche: Fetzen von dreckstarrendem Wachstuch, verkrustete Schmutzschichten. Ein riesiger Plastiksack voller leerer Flaschen. Das Zimmer sah nicht viel besser aus. Ein roter Spielzeuglaster aus Plastik war der einzige normale Gegenstand in dieser Müllgrube.
    Sie war gegangen, ohne sich noch einmal umzudrehen, war die Treppe hinuntergerannt, beinahe ohne die maroden Stufen zu

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