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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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ist.«
    »Was soll das Gelaber, du Idiotin!«, schrie er so laut, dassder vor sich hin dösende Wachmann zusammenzuckte und die Augen öffnete und der Junge vor der Toilette erstarrte und erstaunt die Brauen hob.
    »Schrei nicht so. Du weißt genau, von wem und wovon ich rede. Ich weiß, dass ich eine Idiotin bin und dir nichts bedeute. Aber denk dran, so eine Idiotin findest du so schnell nicht wieder.«
    Vaselin bebte förmlich. Er war kurz davor, auszurasten und Natascha so heftig in das runde, farblose Gesicht zu schlagen, dass es knirschte und Blut über den weichen vollen Mund rann.
    »Sei still«, flüsterte er leise, wobei er die steifen Lippen kaum bewegte. »Wenn du nicht sofort still bist, dann …«
    »Was dann? Na, was? Willst du mich umbringen? Erwürgen? Erstechen? Mir das Herz rausreißen und es aufessen? Du bist verrückt, du brauchst Hilfe. Und ich bin auch verrückt. Jede andere an meiner Stelle hätte dich längst zum Teufel geschickt.«
    Natascha stand vor ihm, die kurzen dicken Beine gespreizt und die Arme wie ein Waschweib in die quadratischen Hüften gestemmt. Hinter ihr schimmerte wie ein rosa Fleck das gespannte Gesicht des Wachmanns. Noch weiter hinten, draußen vor der halboffenen Tür, leuchteten blass die Lichter des stillen vormorgendlichen Prospekts.
    »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte der Wachmann.
    »Ja«, antwortete Natascha, »alles in Ordnung mit ihm.«
    Sie trat zu Vaselin, packte ihn entschlossen am Arm und führte ihn zurück in den lärmenden, verrauchten Saal. Sie gingen an dem jungen Mann vorbei, der sie nicht mehr zu beachten schien und eine Nummer in sein Handy eintippte.
    »Schluss jetzt mit dem Getobe«, zischte Natascha leise. »Du wirst erwartet. Die Leute haben nämlich Eintritt bezahlt.«
    Im Saal empfingen sie Applaus, Pfiffe und Schreie, und Vaselin lächelte, schüttelte die verschränkten Hände über demKopf und rief: »Wow! Da bin ich, Kinder! Ich gehöre ganz euch!«
     
    Die Hominidin achtete nun auf nichts mehr. Sobald sie die Schachtel mit den Spritzen in der Hand hielt, rannte sie aus der Apotheke und in einen Torbogen.
    Der Wanderer folgte ihr. Er hatte die Brille abgenommen und die Schirmmütze so tief heruntergezogen, dass der obere Teil seines Gesichts vollständig beschattet war. Den unteren Teil bis zur Nase verhüllte ein dünner karierter Schal. Bei dieser Dunkelheit konnte ihn kaum jemand erkennen oder ihn gar später identifizieren.
    Er folgte der Frau quer über einen großen Hof mit einem Sportplatz, vorbei an Garagen und dem grauen Plattenbau der Poliklinik. Ja, er kannte diesen Bezirk. Also musste er besonders vorsichtig sein.
    Er hatte noch keinen konkreten Plan gefasst. Er wollte nur wissen, wo die beiden weinenden Engel lebten, der kleine Petja und die kleine Ljuda. Die Frau führte ihn zu einem heruntergekommenen dreistöckigen Gebäude ohne Hausnummer. Der Wanderer tauchte hinter ihr in den schwarzen Rachen des Torbogens und entdeckte ein einsames trübes Fenster. Hinter dem Torbogen lag ein weiterer Hof. Dort, auf der Rückseite des alten Hauses, knarrte eine Eingangstür im Wind. Mühsam beherrschte er sich, um der Frau nicht sofort die übelriechende Treppe hinauf zu folgen. Das Heulen einer Sirene ganz in der Nähe und das Klappen einer Tür oben ließ ihn innehalten.
    »Raja, bist du’s?«, fragte eine heisere Frauenstimme.
    Flackernd ging das Licht an. Der Wanderer wich zurück und versteckte sich im Dunkel unter der Treppe.
    »Wie? Ja, ich bin’s«, antwortete die Hominidin fröhlich.
    »Hör mal, ähm, gleich kommt’n Krankenwagen und die Bullen.«
    »Was issen passiert?«
    »Ähm, Onkel Grischa, der hat sich schon wieder aufgehängt. Diesmal hat’s geklappt. Sag mal, was brüllt denn deine Ljuda so? Schreit wie am Spieß, die Kleine. Vielleicht riecht se den Toten? Oder isse krank?«
    »Nein, nein, die Ljuda is gesund. Bloß schlecht drauf.« Die Hominidin kicherte heiser.
    »Und dein Neuer, ähm, tut der den Kindern auch nichts?«
    »Pah, meine Kinder, die tun selber jedem was!«
    Wieder lachte sie. Glücklich, voller Vorfreude auf den Schuss.
    Der Wanderer hörte nicht weiter zu und verließ das Haus. Das Heulen der Sirene kam näher. Er ging besser nicht wieder durch den Torbogen hinaus; jeden Moment konnten Miliz und Krankenwagen auftauchen.
    Zweifellos war der Wanderer hier früher schon gewesen, in seiner Hominidenhaut. Aber er erinnerte sich nicht, wann, warum und bei wem. Er wusste, dass der Hof nicht rundum

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