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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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untersuchen, und jetzt gehen wir in Ihr Zimmer, Sie müssen sich hinlegen.«
    »In mein Zimmer?«, fragte der Alte misstrauisch. »Sagen Sie denen, sie sollen mich loslassen.«
    Der Chefarzt gab den Pflegern mürrisch ein Zeichen. Nikonow wäre beinahe gestürzt, als sie ihn losließen. Olga packte geistesgegenwärtig seinen Arm und brachte ihn zur Box. Der Alte schluchzte leise und murmelte: »Bitte keine Schocks, ich habe Angst, ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr.«
    »Olga«, sagte der Chefarzt hinter ihr, »wir erwarten Sie in Ihrem Zimmer.«
    »In Ordnung.«
    Als sie sich umdrehte, entdeckte sie einen neuen Pfleger, einen Jungen um die zwanzig, groß und kräftig, mit einem freundlichen, gutmütigen runden Gesicht.
     
    Nachdem Vaselin gegangen war, streifte Natascha einige Minuten lang durch die Wohnung, wischte mechanisch Staub und ordnete Sachen auf den Regalen.
    Wieder, zum hundertsten, ja tausendsten Mal hatte er sie beleidigt. Sie hatte sich längst an seine Unverschämtheiten gewöhnt und nahm sie als unvermeidlich hin. Vaselin war ein kreativer Mensch. Kreative Persönlichkeiten waren eben so. Das wusste Natascha genau, denn sie hatte einen Großteil ihres Lebens hinter den Kulissen der Unterhaltungsmusik verbracht.
    Verglichen mit den Pop-Idolen, die zu Playback-Musik nur auf der Bühne herumhüpften und den Mund auf- und zumachten, war Vaselin wirklich ein Genie. Er sang live und schrieb seine Texte und seine Musik selbst. Er hatte seinen eigenen Stil, und das allein war den PR-Aufwand wert. Außerdem war er sehr sexy. Tiefe samtige Stimme, Topfigur, breite Schultern, schmale Hüften, rassiges, männliches Gesicht. Ständig umschwärmten ihn Mädchen, jünger und schöner als Natascha, und natürlich war sie eifersüchtig, aber nicht zu sehr, denn sie wusste, dass er doch immer wieder zu ihr zurückkam.
    Als Natascha so im Bademantel durch die Wohnung streifte, fand sie ein antikes silbernes Rasiermesser und musste an den Song von der silbernen Klinge und der durchtrennten Kehle der jungen Angelina denken. Gerade heute Nacht hatte sie geträumt, dass Vaselin mit diesem Rasiermesser auf sie losging.
    Sie hatte Alpträume. Sie hörte ständig seine Songs, hatte sich daran gewöhnt und schien sie gar nicht mehr wahrzunehmen. Doch sie setzten sich in ihrem Gehirn fest wie Rostin alten Rohren. Sie träumte, dass Vaselin mit ihr all das machte, wovon er sang: Sie erwürgte, erstach, vergewaltigte, ihr Blut trank, Leichen aus Gräbern holte.
    In wachem Zustand war sie ehrlich empört über die Leute, die ihn kritisierten, und nannte sie talentlose Neider. Doch im Traum wurden die von Vaselin erdachten Alpträume lebendig. Sie sah Vaselin mit einem Beil, mit einem elektrischen Messer, mit bluttriefendem Mund, mit hervorquellenden Augen und warf anschließend heimlich die gefährlichsten Dinge weg – das Fleischerbeil, das elektrische Küchenmesser.
    Natascha nahm das Rasiermesser mit zwei Fingern, wickelte es in Zeitungspapier ein und warf es in den Mülleimer. Da rief Vaselins Produzent Boris an. Er sagte, sie müssten ein neues, billigeres Studio anmieten, niemand wolle die Präsentation von Vaselins Gedichtband sponsern, und überhaupt stünden die Dinge miserabel. Er versuche ständig, Interviews in Hochglanzmagazinen zu arrangieren, immer vergebens. Vaselin sei keine Marke mehr, sie müssten etwas unternehmen.
    »Wieso vergebens?«, fragte Natascha erstaunt. »Er sitzt doch gerade im Café und gibt ein Interview.«
    »Wem?«
    Natascha erzählte von dem Journalisten, teilte dem Produzenten stolz und ein wenig giftig mit, der Reporter habe Vaselin nach dem Konzert von sich aus angesprochen und wolle eine Doppelseite mit Fotos machen, ganz umsonst, ohne dass Boris etwas dafür getan hatte.
    »Das kann nicht sein«, sagte Boris, »von denen habe ich gerade eine Absage gekriegt. Wie, sagst du, heißt der Reporter?«
    »Anton. Wie weiter, haben wir nicht gefragt.«
    »Und wo sitzen sie gerade?«, fragte Boris besorgt.
    »Ganz in der Nähe, in einem Café, zwei Häuserblocks von hier.«
    Augenblicklich übertrug sich Boris’ Unruhe auf Natascha.
    Nicht umsonst hatte sie Vaselin gebeten, sich den Ausweis des Reporters zeigen zu lassen. Immer wieder wurde Vaselin von Verrückten belästigt, die sich als Journalisten ausgaben; von Fans oder im Gegenteil von Leuten, die ihn hassten, von Kämpfern für die Reinheit der russischen Poesie. Unter den Fans waren mitunter Fetischisten; sie

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