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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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eine andere Theorie?«
    Solowjow zuckte wortlos die Achseln, sprang über den Straßengraben und tauchte unter dem Absperrband hindurch. Die Zeugen blieben am Straßenrand stehen.
    »Den kriegen Sie sowieso nie. Übrigens ist gerade Vollmond. Da werden Psychopathen besonders aktiv.«
    »Woher weißt du denn das?«
    »Ich lese eben schlaue Bücher.«
    Solowjow schaute sich um. Die Zeugen standen Arm in Arm da und beobachteten, wie die blasse, vollkommen runde Mondscheibe hinter den Wolken hervorglitt.
    »Hier sind überall Büsche und Zweige abgeknickt«, sagte der Spurensicherer leise. »Wie von einem Orkan.«
    Der Strahl einer Taschenlampe bewegte sich langsam im Kreis.
    »Bei dieser Dunkelheit hat das keinen Sinn«, sagte Oberleutnant Anton Gorbunow. »Wir müssen warten, bis es hell wird.«
    Solowjow schwieg. Der Lichtstrahl fiel auf den dünnen Stamm einer jungen Birke. Der Baum stand schräg, als hätte in der Tat ein Orkan daran gerüttelt und ihn entwurzeln wollen. Solowjow kehrte zu dem Leichnam zurück.
    Ein süßer Geruch schlug ihm entgegen. Stimmt, wie Bonbons oder Kaugummi. Der Täter musste eine ganze Flasche Öl ausgekippt haben. Die leere Plastikflasche lag gleich daneben. Auf dem Etikett prangte ein lächelndes Kind, in ein rosa Handtuch gehüllt. »Babydream«. Pflegeöl nach dem Baden. Fünfhundert Milliliter. Das gab es in jeder Apotheke. Solowjow registrierte, dass der Deckel wieder ordentlich aufgeschraubt worden war. Die Fingerabdrücke waren vermutlich abgewischt worden. Ein ordnungsliebender Mörder.
    Der Lichtstrahl glitt über eine Hand mit grell lackierten kurzen Fingernägeln.
    »Sie ging noch zur Schule«, murmelte Solowjow, »war bestimmt eine gute Schülerin.«
    »Wie kommen Sie darauf?«, fragte der Kriminaltechniker.
    »Die charakteristische Verdickung am obersten Glied des Mittelfingers. Typisch für jemanden, der viel mit der Hand schreibt.«
    Da haben wir schon den ersten Unterschied, dachte Solowjow. Die anderen Kinder hatten glatte Finger, ohne Schwielen. Sie haben nicht viel geschrieben. Sie gingen nicht zur Schule, sonst hätte sie irgendwer identifiziert.
    »Ach, was haben wir denn hier?« Solowjow bog vorsichtig ein Büschel vertrocknetes vorjähriges Gras beiseite.
    »O mein Gott«, stöhnte der Kriminaltechniker und hob mit einer Pinzette einen hellblauen Babynuckel auf.
    Einen Augenblick schwiegen alle. In der eintretenden Stille schien es irgendwie besonders kalt. Die Hände in den Gummihandschuhen waren steif vor Kälte. Solowjow meinte einen einsamen Vogel zwitschern zu hören. Aber es konnte keine Vögel geben hier in diesem Wald, Anfang April, bei Frost, höchstens Krähen. Doch das Zwitschern hörte nicht auf. Solowjow ging dem Geräusch nach und leuchtete mit der Taschenlampe jeden Zentimeter ab.
    Es war ein Mobiltelefon. Es lag unter einem Baum, grellrosa, mit einem kleinen goldenen Schuh als Anhänger.
    Solowjow hob es vorsichtig auf und drückte auf Annahme.
    »Hallo! Shenja! Wo steckst du? Hallo! Melde dich doch! Shenja, mein Kind …«
    Die heisere Frauenstimme traf Solowjows Ohr wie ein Trommelfeuer. Das Telefon piepste und verstummte. Der Akku war alle.
     
    Der Wanderer war aus dem Reich des Lichts, wo alles klar war, zurückgekehrt in die Realität, in die ewige Nacht, wo nichts verständlich war. Er hatte seine heilige Mission erfüllt. Einen Engel gerettet.
    Er erinnerte sich nur vage daran, wie er durch die nächtliche Stadt geirrt und wieder zu seinem Auto gelangt war. Er schaute sich um, als sähe er das alles zum ersten Mal. Nacht. Mitten in Moskau. Der Fluss. Eine Brücke. Dunkle Häuserblocks. Der ölige Lichtschimmer der Straßenlaternen, rote, blaue und gelbe Neonreklame.
    Öde und beängstigend war diese Stadt voller Leben, voller Menschenleiber – unter der Erde, über der Erde, in den Tiefen der Metro und in den obersten Etagen der Hochhäuser. Drogen, Prostitution, dumpfer Existenzkampf, geschäftige Befriedigung schmutziger Lüste. Ein Triumph des Bösen, auf Millionen Fernsehbildschirme, Computermonitore und Zeitungsseiten gebannt.
    Das Ende der Welt war bereits da, aber niemand hatte es bemerkt, weil niemand es bemerken konnte. Die Welt war voller Hominiden, Mutanten, Dämonen in Menschengestalt. Im Grunde waren sie alle Tiere, Affen. Sahen aber aus wie Menschen. Doch der Mensch hatte eine Seele, der Affe dagegen nicht. Ein Hominide war ein fleischfressendes Scheusal, hinterlistig, aggressiv, für ein Stück Fleisch zu allem bereit. Aber

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