In ewiger Nacht
irgendwie nennen.
Er redete erst am Abend, bei Doktor Olga Filippowa.
Boris Rodezki öffnete die Augen und sah einen schwarzen Busch, der von Autoscheinwerfern angeleuchtet wurde und sich bewegte. Der Park war menschenleer. Rodezki saß auf einer eiskalten Bank und war so durchgefroren, dass seine Zähne klapperten. Er hatte nicht die Kraft, aufzustehen und nach Hause zu gehen.
Ganz in der Nähe tönte Musik, mal lauter, mal leiser, als spiele jemand am Lautstärkeregler. Hinter dem Park, auf der anderen Straßenseite, lag ein bunt beleuchtetes Kasino. Rodezki wusste, dass dort an der Fassade ein Clown mit Zylinderhut mit einem Kartenspiel jonglierte.
Das Kasino war vor drei Jahren eröffnet worden; in dem Gebäude hatte sich früher ein Dienstleistungszentrum befunden, im Erdgeschoss Wäscherei und chemische Reinigung, im ersten Stock Schneiderei, Kunststopferei und Fotoatelier.
Eines Abends war an der renovierten Fassade der Clown mit den Spielkarten aufgeleuchtet. Rodezki war gerade auf dem Heimweg aus der Klinik, in der seine Frau im Sterben lag. Der Clown tauchte unvermittelt aus der Dunkelheit auf und hing in der Luft, unter der halbrunden Leuchtschrift: Kasino. Er warf Karten in die Luft, zwinkerte und lachte.
An jenem Abend war Rodezki zum ersten Mal bewusst geworden, dass sich kein Wunder ereignen würde. Nadja verließ ihn. Nicht einmal in Gedanken konnte er sagen: Sie stirbt. Ersaß am Steuer seines alten Shiguli und weinte. Der elektrische Clown schaute auf ihn herab und lachte.
Inzwischen waren drei Jahre vergangen. Irgendwie lebte Rodezki trotzdem weiter, ohne Nadja. Er wusste, dass sie sich bald wiedersehen würden. Rodezki hatte keine Angst mehr vorm Tod. Sterben hieß für ihn nur, zu Nadja gehen.
Doch nun erfuhr er, dass es Schlimmeres gab als den Tod. Trauer und Scham. Dinge, mit denen man nicht fortgehen konnte.
»Hast du vergessen, dass keine gute Tat ungestraft bleibt?«
Rodezki redete mit sich selbst. Er kniff die Augen zusammen, hielt sich die Hände vors Gesicht und hauchte in die eiskalten Handflächen. Wenn er hier nur noch ein paar Minuten sitzenblieb, würde er nie mehr aufstehen können.
Die Musik verstummte. Einige Sekunden lang herrschte eine seltsame Stille, erfüllt vom Rascheln und Flüstern der kahlen Zweige. Rodezki war nun nicht mehr allein im Park. Jemand kam die Allee entlang. Weiche Schritte näherten sich. Den alten Lehrer erfassten Angst und ein Zittern. Er wagte nicht, den Kopf zu drehen, um zu sehen, wer da kam. Plötzlich fragte eine Stimme neben ihm: »Ist Ihnen nicht gut?«
Vor ihm stand eine Frau in seinem Alter. Strickmütze, Jacke, Jeans und eine große Einkaufstasche über der Schulter.
»Hören Sie mich?« Die Frau tippte ihn an.
»Haben Sie vielleicht Nitroglyzerin dabei?«, fragte er mühsam, mit trockenen Lippen. Er sprach undeutlich, es klang wie »Niglin«, aber die Frau verstand.
»Das Herz, ja? Augenblick. Ich hab was dabei. Das nehme ich immer mit, für alle Fälle. Soll ich vielleicht den Notarzt rufen? Ich habe ein Handy.«
»Nicht nötig, danke.« Er schob sich zwei Tabletten in den Mund und nahm nicht einmal den widerlichen bittersüßen Geschmack wahr. Der Schmerz im Herzen betäubte alle anderen Empfindungen.
»Soll ich Sie begleiten?«
»Nein, danke. Gehen Sie nach Hause. Es ist schon spät. Und kalt.«
Das Sprechen fiel ihm schwer, er keuchte heftig. Die Frau ging nicht, sondern setzte sich neben ihn auf die Bank.
»Ist etwas passiert?«
Sie hatte eine so warme, sanfte Stimme und so mitfühlende Augen, dass Rodezki ihr am liebsten alles erzählt hätte. Er konnte sich sonst niemandem mitteilen. Aber er würde es nicht so erklären können, dass sie verstand.
»Ein Herzanfall, aber es wird schon besser. Danke. Es ist alles in Ordnung.«
Sie half ihm aufstehen. Er erklärte, wo er wohnte. Es war nicht weit. Unterwegs erzählte ihm die Frau von ihren beiden Söhnen, den Schwiegertöchtern, den Enkeln und von ihrem Mann, der im Alter mit dem Trinken angefangen hatte, der alte Esel.
Na also, es gibt noch etwas Normales, Lebendiges, dachte Rodezki, mühsam laufend und gegen die Atemnot ankämpfend. Sie hilft mir ganz uneigennützig, aus Herzensgüte. Es gibt viele gute Menschen. Es scheint nur so, als sei die ganze Welt vertiert. Sobald man einmal mit etwas wirklich Bösem konfrontiert wird, glaubt man gleich, dass es nichts anderes mehr gebe. Vielleicht sollte ich ihr alles erzählen?
Aber er wusste: Er würde niemandem je
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