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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Karussellfahrer zog sich sicherheitshalber die Decke über den Kopf, bis auf einen kleinen Spalt, damit er sehen konnte, wer hereinkam.
    Ein Schlüssel knirschte im Schloss. Eine Schwester betrat das Zimmer. Die Schwestern hier waren eine wie die andere kräftige Matronen mit schweren Fäusten. Er hielt die Luft an, als sie an sein Bett trat.
    Warum kommt sie zu mir? Wieso steht sie hier und sieht mich an?
    Die Schwester gähnte herzhaft, reckte sich, murmelte etwas vor sich hin und schlurfte davon. Die Tür wurde wieder geschlossen. Der Karussellfahrer atmete erleichtert auf, und ihm wollten schon die Augen zufallen, als der Alte im Bett neben ihm sich plötzlich aufsetzte und laut rief: »Natascha!«
    »Was hast du?«, fragte der Karussellfahrer flüsternd.
    »Natascha, meine Frau. War sie gerade hier?«
    »Nein. Das war sie nicht.«
    »Wer denn?«
    »Eine Schwester.«
    »Wieso?«
    »Woher soll ich das wissen? Schlaf weiter.«
    Doch der Alte dachte nicht an Schlaf. Er schaute sich unruhig um, starrte den Karussellfahrer an, zeigte dann mit dem Finger auf die Tür und sagte: »Das Telefon. Das Telefon hat geklingelt. Haben Sie das gehört?«
    »Ja. Und?« Der Karussellfahrer drehte sich weg. Er hatte absolut keine Lust, sich mit seinem verrückten Nachbarn zu unterhalten.
    »Das war Natascha, ich weiß es.« Der Nachbar berührte seine Schulter. »Das war sie, aber sie haben mich nicht ans Telefon geholt. So ist das immer. Sie ruft an, und sie holen mich nicht und sagen mir nicht Bescheid. Das machen sie mit Absicht. Natürlich, unser Verhältnis wirkt ein bisschen komisch, sie könnte meine Tochter sein. Moment, ich zeige Ihnen ein Foto, dann verstehen Sie, was ich meine.«
    Meinetwegen, was soll’s, dachte der Karussellfahrer, ist immerhin eine Ablenkung, ich kann sowieso nicht mehr einschlafen.
    Er drehte sich zu seinem Nachbarn um und warf einen flüchtigen Blick auf ein Farbfoto. Der Alte hielt es ihm direkt vor die Nase, gab es ihm aber nicht in die Hand und versteckte es hastig wieder unter seinem Kopfkissen.
    »Sehen Sie, wie schön sie ist? Wenn wir zusammen weggehen, dann schauen alle Männer sie an. Ich habe mich mein Leben lang für einen anständigen, vernünftigen und nüchternen Mann gehalten, ich dachte, ich hätte meine Gefühle vollkommen im Griff und mich immer unter Kontrolle. Aber das war wie eine Heimsuchung, wie Hypnose, ich habe meine Familie verlassen und verraten, und nun muss ich dafür büßen. Ich habe es verdient. Was soll ich machen? Ich habe es verdient …«
    Die Worte des Alten wurden immer undeutlicher, er fiel mit dem Gesicht aufs Kissen, murmelte weiter, schluchzte, verstummte schließlich und schlief ein.
    Die Nacht neigte sich zum Morgen. Im Zimmer war es schwül, es roch nach Chlor und schwarzer Schwermut.
    Nein, tröstete sich der Karussellfahrer, das hier ist nicht die Hölle. Das hier ist viel besser. Die Hölle, das war, als sie mir dicht auf den Fersen waren. Die Hölle, das war in der Riesenradgondel, als ich vor Kälte fast krepiert wäre. Hier dagegen kann man’s aushalten. Hier werde ich überleben.
     
    Boris Rodezki liebte seine kleine, saubere Wohnung. Im Wohnzimmer ein runder Tisch mit einer weinroten Tischdecke, ein Sofa und zwei Sessel, alles schon ziemlich zerschlissen, aber sehr bequem. Im Schlafzimmer, das ihm auch als Arbeitszimmer diente, stand ein alter Schreibtisch, der drei Kriege und Tausende korrigierter Schulaufsätze mitgemacht hatte. Das schwere Eichenmöbel mit der ledernen grünen Schreibtischunterlage passte nicht recht zu der schmalbeinigen Liege aus den siebziger Jahren, doch über der Schaumgummimatratze lag ein grüner Überwurf, passend zur Schreibtischunterlage. Grün waren auch die Vorhänge und der Schirm der Schreibtischlampe. Das Licht mit dem hellgrünen Schimmer schufeine Illusion von ewigem Frühling, von frischem Waldgrün, von Ruhe und Glück.
    In beiden Zimmern und im winzigen Flur reichten Bücherregale vom Boden bis zur Decke. Zweimal in der Woche putzte Rodezki gründlich, wischte feucht, saugte und polierte. Er duldete keine Unordnung.
    Wo keine Bücherregale standen, hingen Fotos an der Wand. Klassenfotos von 1965 bis 2002. Seine Schüler.
    Die ältesten Fotos waren mit Ähren, den Profilen von Lenin, Marx und Engels, den Silhouetten der Kremltürme und Fabrikschloten geschmückt. Unverzichtbar waren Hammer und Sichel, das Staatswappen der UdSSR. In den siebziger Jahren tauchte hin und wieder Breshnew mit seinen buschigen

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