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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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seinem Haus an verfolgt, sondern von den Orten, an denen er sich mit seinen Kunden traf, vom Kulturpark und vom Weißrussischen Bahnhof. Woher kannten sie Zeit und Ort? Hatten sie sein Telefon abgehört? Nein,er rief seine Kunden grundsätzlich von Münztelefonen auf der Straße an. Waren sie von der Miliz? Nein, die ging anders vor, die mimte den Käufer und verhaftete einen dann auf frischer Tat.
    Einmal wäre er um ein Haar auf diese Weise aufgeflogen. Er war zu einem Treff gegangen, hatte den Kunden von weitem eine Weile beobachtet und ihn ziemlich schnell als Bullen identifiziert. Der Mann, der auf ihn wartete, sah zu gesund und gelassen aus. Wie ein Kerl mit völlig normalen sexuellen Interessen. Ein echter Pädophiler war nervös und feige, besonders beim ersten Treffen. Und schaute vor allem keinen hübschen Frauen nach.
    Mark konnte noch rasch in der Metro verschwinden, ehe der falsche Kunde ihn entdeckte.
    Seitdem war Mark vorsichtiger. Bevor er sich mit einem potentiellen Kunden traf, verhandelte er im Chatroom ausführlich mit ihm, analysierte Satzbau, Lexik und emotionale Spannung. Am Treffpunkt beobachtete er den Interessenten lange und machte sich beim geringsten Verdacht aus dem Staub. Alles lief bestens. Ohne den kleinsten Reinfall.
    Und nun, nach fast zwei Jahren, wurde er regelrecht gejagt, von allen Seiten eingekreist. Das waren nicht die Bullen, dahinter steckte jemand anders.
     
    Sein Nachbar war zurück, setzte sich auf sein Bett und murmelte: »Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr!«
    Er hieß Nikonow. Mark wusste inzwischen, dass er Wissenschaftler war, sogar Akademiemitglied, irgendwas mit Landwirtschaft. Er hatte sich vor kurzem scheiden lassen und seine Sekretärin geheiratet, eine üppige Blondine namens Natascha, zwanzig Jahre jünger als er.
    Mit seinen beiden erwachsenen Kindern war er zerstritten, selbst die Enkel hatten keinen Kontakt mehr zu ihm. Aber er brauchte auch niemanden außer Natascha.
    »Natascha«, sagte er immer wieder, »mein Mädchen, meine Schöne.«
    Und dann jammerte er wieder: »Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr!«
    Mark hielt sich die Ohren zu. Er hätte schrecklich gern heiß geduscht, sich die Zähne geputzt, einen starken Kaffee getrunken und eine Zigarette geraucht. Nach ein paar Minuten hallte es in seinem Kopf in Endlosschleife, wie auf einer kaputten CD: »Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr!« Dabei war der alte Nikonow längst verstummt und auf den Flur hinausgegangen.

Fünftes Kapitel
    Könnte man doch eine Linie ziehen von einem Zeitpunkt B zu einem Zeitpunkt A und auf dieser Linie wie auf einem Seil zurückkehren zu der Person, die man vor zwanzig Jahren war! Olga stellte sich das langsame Gleiten über dem geheimnisvollen Abgrund lebhaft vor. Ihr schwindelte, ihre Arme zuckten, als wollten sie sich heben, sich ausbreiten, um die Balance zu halten.
    Hör auf! Du hast schon graue Haare, Schluss mit dem Seiltanz. Du willst wieder zwanzig sein? Wie sagt deine vernünftige Mutter immer? »Überlege, was du in diesem Augenblick willst, und dann tu genau das Gegenteil.«
    »Hören Sie mich, Olga?«
    Doktor Filippowa schüttelte energisch den Kopf, zupfte ihren Kittelsaum zurecht und trank ihren inzwischen kalten Kaffee aus. Sie saß im Büro des Chefarztes.
    Der Chefarzt, ein untersetzter, brünetter Fünfzigjähriger, sah mürrisch an ihr vorbei. Seine buschigen Augenbrauen standen nach allen Seiten ab. Die Bartstoppeln auf Kinn und Wangen schimmerten bläulich. Aus seiner Nase ragte ein langes dickes Haar, gewellt wie ein Fragezeichen. Unter seinemKittel sah Olga den V-Ausschnitt eines dunklen Pullovers, den er auf dem nackten Oberkörper trug – anstelle eines Hemdkragens quoll dichtes schwarzes Haar aus dem Ausschnitt.
    Er hat wieder mal Streit mit seiner Frau, konstatierte Olga.
    Wenn bei ihm zu Hause Frieden herrschte, hing kein Fragezeichen-Haar aus seiner Nase, das riss seine Frau ihm aus. Und unter dem Pullover trug er dann stets ein sauberes Hemd.
    Olga balancierte in Gedanken noch immer über dem geheimnisvollen Abgrund. Der Weg von B nach A erschien ihr verdächtig kurz und leicht. Am Punkt A war sie zwanzig Jahre alt, und ab hier konnte sie noch einmal neu anfangen, ihrem nachfolgenden Leben eine andere Richtung geben. Die vielleicht falsch war und krumm, aber wer sagte denn, dass alles immer richtig und gerade sein musste?
    Überlege, was du im Augenblick willst,

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