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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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kleine Mädchen, trauen sich aber nicht. Kein Wunder! Sie als Verdienter Lehrer, ein hochgeachteter Mann, der Stolz der Schule. Mir ist übrigens schon längst aufgefallen, wie Sie mich immer anstarren. Viele Pädophile sind Lehrer, sie suchen sich extra einen Beruf, wo sie mit Kindern zu tun haben!«
    Erneutes Hupen. Die Scheinwerfer hinter dem Gebüsch wurden aufgeblendet. Shenja warf einen raschen Blick in die Richtung, wo das Auto stand, dann einen auf den alten Lehrer. Sein Herz schlug immer heftiger, der Schmerz zog sich bis in den linken Arm. Außerdem bekam er einen Asthmaanfall. Er hustete und griff nach dem Spray in der Tasche.
    »Sie bestellen mich zu Nachhilfestunden zu sich nach Hause. Sie leben allein. Was meinen Sie, was los ist, wenn ich in der Schule das Gerücht verbreite, dass Sie mich belästigt haben?«
    »Aber das ist eine Lüge, Shenja! Schämst du dich denn gar nicht?« Seine Stimme klang klagend und lächerlich. »Ich wollte dir doch nur helfen. Ich habe nicht die Miliz informiert, auch nicht die Schule, ich habe nicht einmal deine Mutter angerufen. Ich habe dir eine Chance gegeben …«
    »Sie wissen ja, wer mein Vater ist. Er macht Sie fertig.«
    Das Auto hupte erneut, laut und beharrlich. Shenja schrak zusammen, schaute sich um und rannte aus dem Park.
    »Sie haben sich geirrt, klar? Und lassen Sie mich endlich in Ruhe! Alter Kinderschänder!«
    Das waren ihre letzten Worte.
    Rodezki sank auf eine Bank. Die Herzschmerzen wurden immer unerträglicher. Er hörte jenseits des Parks eine Autotür zuschlagen, dann wurde der Motor angelassen, und die Lichtkegel der Scheinwerfer huschten durch das Gebüsch.
    Vielleicht habe ich mich ja wirklich geirrt, dachte er, mit offenem Mund krampfhaft nach der eiskalten Abendluft schnappend.
    Er blieb sitzen, bis die fremde ältere Frau ihn ansprach und nach Hause brachte. Schade, dass er sie nicht nach ihrem Namen gefragt hatte.

Sechstes Kapitel
    »Nikolai, Ihre Frau hat dreimal angerufen, außerdem jemand von der Bank, wegen der Werbung. Und Lawrentjew, er wollte wissen, ob es bei dem Termin heute bleibt. Ich habe es bestätigt. Sie sind in einer Viertelstunde hier.« Die Sekretärin lächelte und klapperte mit den getuschten Wimpern. »Möchten Sie einen Tee?«
    »Nein danke, Nastja. Sonst hat niemand angerufen?«
    »Ich glaube nicht.« Sie runzelte die Stirn und blätterte im Schreibtischkalender. »Nein, sonst niemand. Erwarten Sie einen bestimmten Anruf?«
    Er winkte nur wortlos ab und verschwand hinter der Doppeltür, in seinem Büro. Hier fühlte er sich wohler als zu Hause. Hier musste er sich nicht ständig anstrengen und die Rolle des treuen Ehemannes spielen. Hier war alles so, wie er es mochte. Ein riesiger Tisch aus dunklem Holz in T-Form, Ledersessel, dunkelbraun wie Bitterschokolade, und hinter einer Wand aus Rankenpflanzen eine Ecke zum Ausruhen und für inoffizielle Gespräche.
    Nikolai zog die Jacke aus und hängte sie auf einen Bügel imSchrank. Mechanisch strich er sich vorm Spiegel das kurze graue Haar glatt. Sein Spiegelbild gefiel ihm nicht – geschwollene Tränensäcke, düsterer, gehetzter Blick.
    Er hatte heute nicht gefrühstückt. Er war um sieben aufgestanden, hatte rasch geduscht, sich angezogen, seiner Frau gesagt, er wolle im Büro frühstücken, und war, statt sich von seinem Chauffeur abholen zu lassen, in seinen eigenen Wagen gestiegen und anderthalb Stunden durch die Stadt gefahren. Ein Versuch, sich selbst etwas vorzumachen. Er schaltete das Radio ein, hörte die Börsennachrichten und erstellte daraus nach alter professioneller Gewohnheit sogar im Kopf Prognosen. Aber nichts half. Es zog ihn unweigerlich in eine stille Straße im Bezirk Sokolniki, zu einem neungeschossigen Plattenbau.
    Er sollte dort nicht auftauchen. Das war dumm und gefährlich. Als er in einem kleinen Stau auf dem Komsomolski-Prospekt stand, sagte er sich, er würde an der nächsten Kreuzung wenden, in Richtung Zentrum steuern, vor einem ruhigen teuren Café halten, ordentlich frühstücken und dann ins Büro fahren. Er war sicher, dass er das tun würde, tat jedoch genau das Gegenteil. Als sich der Stau auflöste, fuhr er weiter und kam erst in der bewussten Straße zu sich.
    »Es ist vorbei«, murmelte er, die trockenen Lippen kaum bewegend. »Ich bin frei. Ich bin geheilt. Das war doch eine Krankheit. Zwei Jahre gefährlicher Geistesverwirrung. Zwei Jahre krankhafter Liebe, voller Risiken, strikter Konspiration und unermesslichen Glücks.

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