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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Frisur.«
    »Sondern?«
    »Wie gesagt – nicht hier und nicht jetzt.«
    Sie schaute ihn von unten herauf an. Er sah die dünnen weißen Streifen zwischen ihren albernen Zöpfchen, die reine, gewölbte Stirn, die schwarzen, wie mit Dachshaarpinsel gemalten Augenbrauen. Die blauen Augen funkelten seltsam heftig. Als habe sie ihn bei etwas Geheimem, Beschämendem ertappt. Oder kam ihm das nur so vor? Er war nervös.
    »Können Sie nicht wenigstens andeuten, was los ist?«
    »Du fehlst sehr oft.« Er hüstelte heiser und gekünstelt und bedauerte, dass er dieses Gespräch angefangen hatte.
    »Ich bin krank. Chronische Bronchitis. Ich hab ein Attest vom Arzt.«
    Ihr Ton, ihr harter, unbewegter Blick ließ ihn frösteln.
    Hör auf, bevor es zu spät ist! Wo mischst du dich da ein, alter Dummkopf, flüsterte seine innere Stimme. Sei kein Feigling! Das ist deine Pflicht, als Lehrer und als Mensch, beharrte das Gewissen.
    »Du hast keine Bronchitis, Shenja. Die Atteste sind gefälscht. Genau darüber will ich mit dir reden. Ist deine Handynummer noch dieselbe? Gut. Ich rufe dich an, und wir treffen uns irgendwo.«
    Sie nickte nur wortlos.
    Er ging. Etwas zu eilig, als liefe er weg.
     
    Klar, das hier ist nicht gerade ein Alpenkurort, aber eine Woche lässt es sich gut aushalten, überlegte der Patient mit dem Spitznamen Karussellfahrer.
    Er fühlte sich beinahe unsichtbar. Er hätte bei Doktor Filippowa bestimmt nicht so eine Lippe riskiert, würde sie seinen Namen kennen. Insgeheim wusste er natürlich, dass er nur aus Angst so aufdrehte. Als wolle er alle überlisten, nicht nur die Ärztin, sondern auch sich selbst und seine eigene Panik, die er bis obenhin satt hatte.
    Eine Schwester schaute zur Tür herein und rief: »Marik! He, hör auf mit dem Quatsch, was soll der Zirkus?«
    Der namenlose Patient zuckte zusammen und starrte die Schwester an. Sie sah an ihm vorbei. Er folgte ihrem Blick und entdeckte einen kahlgeschorenen, feminin wirkenden jungen Mann in weiten geblümten Satinunterhosen, der bellend und mit dem Hintern wedelnd, als habe er einen Hundeschwanz in der Unterhose, auf allen vieren auf die Schwester zulief.
    »He, Spinner, wieso kommst du nicht frühstücken?«
    Die quiekende Frauenstimme war direkt an seinem Ohr. Mark legte sich wieder hin und drehte sich zur Wand. Die Pflegerin rüttelte an seiner Schulter. Er beschloss, nicht zu reagieren. Ein Irrer hatte das Recht, zu schweigen und zu reden, wann er wollte, und nicht, wenn es von ihm erwartet wurde.
     
    Dima Solowjow hasste den Sektionssaal, und jedes Mal, wenn er zu den Gerichtsmedizinern ging, musste er gegen das Bedürfnis nach einem Schluck Wodka ankämpfen.
    Das Leichenschauhaus im alten Gebäude des Medizinischen Instituts war alt, die Seziertische waren nicht aus Zink, sondern aus Marmor. Die Schule, in die Solowjow gegangen war, lag in der Nachbarstraße. In der fünften Klasse hatte Petka Tschuwilin, ihr einziger Sitzenbleiber, Legende und Plage der Schule, eines Tages nach dem Unterricht das schönste undstillste Mädchen der Klasse, Olga Luganskaja, an die Hand genommen und geheimnisvoll geflüstert: »Ich zeig dir was, ich zeig dir was!« Dima war natürlich hinterhergelaufen. Tschuwilin mochte Olga, aber Dima mochte sie noch mehr, und zwar seit der ersten Klasse.
    Es war Mai und sehr heiß. Der kräftige Petka schwitzte und keuchte laut. Sie krochen durch ein Loch im Zaun und standen auf einem unbekannten asphaltierten Hof. Vor ihnen ragte ein düsteres altes Gebäude aus dunkelrotem Backstein auf.
    »Und jetzt die Augen zumachen!«, sagte Petka. Er nahm sie beide an die Hand und führte sie weiter.
    Als Erstes hörten sie eine bekannte Schlageraufnahme, dann Lachen und fröhliche Stimmen. Petka blieb stehen und schrie: »Überraschung!«
    Sie standen vor einem breiten Souterrainfenster. Es war weit offen. Sie sahen einen riesigen Saal, geflieste Wände, weiter hinten Glasschränke mit großen Gläsern darin, in denen in einer Flüssigkeit Unbegreifliches, Schauriges schwamm. Direkt unterm Fenster ein Tisch, darauf ein nackter Mann mit aufgeschnittenem Bauch. Am Fußende zwei Männer in grünen Kitteln; sie aßen Mohnbrötchen und tranken dazu Milch aus einem Tetraeder. Ein Mädchen daneben, ebenfalls im grünen Kittel, lackierte sich die Fingernägel rot und trällerte den Schlager mit.
    »Na, Kinder, wollt ihr mal kucken? Kommt rein, geniert euch nicht!«, rief einer der jungen Burschen.
    Wie auf Kommando rannten sie blindlings davon,

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