In ewiger Nacht
und dann tu genau das Gegenteil.
Jedesmal, wenn Olga nach ihrem eigenen Willen handelte, fühlte sie sich schuldig. Richtete sie sich dagegen nach ihrer Mutter, war sie unglücklich. Zwei Extreme. Dazwischen war ein Seil gespannt. Die Kunst bestand darin, darüberzulaufen, ohne herunterzufallen.
»Olga, ich frage Sie noch einmal: Sind Sie sicher, dass Sie den Aufsatz von Herrn Iwanow gründlich genug gelesen haben?«
Der Chefarzt hatte schlechte Laune. Außer dem Streit mit seiner Frau hatte er noch andere Probleme, für ihn offenbar weit ernstere.
»Ja, ich habe ihn gelesen und dem Verfasser zurückgegeben.«
Der Verfasser saß dabei. Ein schlaffer junger Mann mit dem Gesicht eines überfütterten Säuglings und blauen Puppenaugen. An seinem Handgelenk prangte eine große, brillantbesetzte goldene Uhr. Er hieß Jegor Iwanow. Als der Chefarzt ihn Olga vor zehn Tagen vorstellte, hatte er ihr ins Ohr geflüstert, Iwanow heiße er nach seiner Mutter, sein Vater sei … Dann hatte sich der Chefarzt besonnen und ihr den Namendes Vaters nicht genannt. Nur, dass es ein sehr, sehr einflussreicher Mann sei, so viel wie ein Oligarch, aber keiner von denen, die heutzutage eingesperrt wurden.
Anschließend hatte er Olga eine dünne Mappe überreicht und erklärt, sie enthalte einen fundamentalen Aufsatz von diesem Iwanow, der bereits promoviert habe, nun an seiner Habilschrift arbeite und für die Zulassung zur Verteidigung eine gewisse Anzahl gewichtiger Publikationen brauche. Doktor Filippowa sei mit dem von ihm gewählten Thema bestens vertraut, und ob sie nicht so liebenswürdig sein wolle, dem begabten jungen Kollegen bei der Zusammenstellung des Faktenmaterials zu helfen, das er nicht nur für seinen Aufsatz, sondern auch für die Habilschrift brauche.
Das Thema war Olga in der Tat vertraut: Das depressiv-paranoide Syndrom vor dem Hintergrund zerebral asthenischer psychopathogener Zustände. Der Text, den sie las, war ein Konglomerat aus Zitaten ohne Anführungszeichen und ohne den kleinsten Quellenverweis.
Olga wollte dem Chefarzt umgehend sagen, dass dies keineswegs ein wissenschaftlicher Aufsatz sei, dass der Verfasser keinen Schimmer habe, nicht nur von diesem Thema, sondern überhaupt von Psychiatrie, und dass sie sich nicht vorstellen könne, wie er zu seinem Doktortitel gekommen sei. Doch der Chefarzt war zu einem Symposium gefahren. Also tat Olga nur eines: Sie setzte Anführungszeichen und vermerkte in den Fußnoten die Namen der Autoren, bei denen Iwanow sich bedient hatte – das war zum Glück nicht weiter schwierig. Der begabte junge Verfasser hatte nämlich ohne viel Federlesens nur eine einzige Quelle benutzt, ein Lehrbuch der Gerichtspsychiatrie für Medizinstudenten.
Nach einigen Tagen rief der Sohn des Oligarchen sie um neun Uhr abends zu Hause an. Der begabte junge Kollege erwischte Olga im ungünstigsten Moment. Ihre Tochter verlangte, dass sie ihren Englischaufsatz durchsah, ihr Mann erzählte gerade von einem Skinheadüberfall in der Metro,dessen Zeuge er auf dem Heimweg geworden war, und der Sohn brauchte dringend und sofort das Telefon. Olga selbst briet gerade Fisch.
»Haben Sie meinen Aufsatz gelesen?«, fragte Iwanow.
»Ja.«
»Haben Sie für mich Beispiele aus der Praxis herausgesucht?«
Olga verschluckte sich beinahe angesichts von so viel Frechheit, entschied aber, dass sie sich jetzt lieber nicht in lange Gespräche einließ, sonst würde der Fisch anbrennen, und bestellte den jungen Kollegen für den nächsten Tag in die Klinik.
Am nächsten Morgen erschien ein hübsches Mädchen, erklärte, Jegor habe sie geschickt, und holte die Mappe ab. Dann kam der Chefarzt vom Symposium zurück und rief Olga zu sich.
»Ich verstehe nicht, was Sie mir hier reingeschrieben haben«, sagte Iwanow. »Ich habe kein einziges Beispiel aus der Praxis gefunden.«
»Und ich verstehe nicht, wovon hier überhaupt die Rede ist. Sie benutzen einfach fremde Texte und machen sich nicht einmal die Mühe, zu überlegen, ob sie etwas mit Ihrem Thema zu tun haben. Ganz zu schweigen davon, dass man Zitate normalerweise in Anführungszeichen setzt und die Quellen angibt. Genau das habe ich getan. Ihre einzige Quelle ist ein Hochschullehrbuch der Gerichtsmedizin.«
Während sie sprach, balancierte sie noch immer über die unsichtbare Linie von B nach A. Sie dachte an ihren ehemaligen Mitschüler Dima Solowjow.
Ich muss Solowjow anrufen und ihm von dem Karussellfahrer erzählen. Außer Dima hat mir vor
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