In feinen Kreisen
Obwohl er in ihr all die Wärme und Leidenschaft gefunden hatte, die er sich nur wünschen konnte, hatte sie ihre Streitlust nicht verloren, vertrat nach wie vor eigensinnig ihre Ansichten, lachte ihn aus und machte dumme Fehler. Es hatte sich im Grunde gar nicht viel verändert, nur dass jetzt eine körperliche Intimität zwischen ihnen herrschte, die er sich nicht im Traum hätte vorstellen können.
Also schickte er Lucius Stourbridge nicht seiner Wege, wie sein Instinkt es ihm vielleicht geraten hätte.
»Vielleicht erzählen Sie mir besser genau, was geschehen ist«, sagte Monk freundlich.
Lucius holte tief Luft. »Ja.« Es kostete ihn einige Mühe, die Fassung wieder zu erlangen. »Ja, natürlich. Gewiss. Es tut mir Leid, ich scheine ein wenig wirr zu reden. Das alles hat mich…
sehr hart getroffen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.« Letzteres war ziemlich offensichtlich und Monk musste sich bezähmen, diesen Gedanken nicht auszusprechen. Er war von Natur aus nicht besonders geduldig. »Wenn Sie vielleicht damit anfangen könnten, mir mitzuteilen, wann Sie Miss – Mrs. – Gardiner das letzte Mal gesehen haben, dann könnten wir von diesem Punkt aus fortfahren«, schlug er vor.
»Natürlich«, stimmte Lucius zu. »Wir wohnen am Cleveland Square in Bayswater, nicht weit entfernt von Kensington Gardens. Wir hatten zur Feier unserer bevorstehenden Hochzeit eine kleine Gesellschaft gegeben. Es war ein wunderschöner Tag und wir spielten Krocket, als Miriam – Mrs. Gardiner – ohne offenkundigen Grund plötzlich äußerst verstört war und aus dem Garten lief. Ich habe sie nicht gehen sehen, sonst wäre ich ihr gefolgt – um herauszufinden, ob sie vielleicht krank war, ob ich ihr irgendwie helfen konnte…«
»Ist sie denn häufiger krank?«, fragte Monk neugierig. Echte Kranke waren eine Sache, aber Frauen, die zu Ohnmachtsanfällen neigten, waren Geschöpfe, für die er nicht viel übrig hatte. Und wenn er diesem unglücklichen jungen Mann helfen sollte, musste er so viel von der Wahrheit wissen wie nur möglich.
»Nein«, entgegnete Lucius scharf. »Sie erfreut sich bester Gesundheit und ist von sehr ausgeglichenem Temperament.« Monk ertappte sich dabei, dass er ganz leicht errötete. Wenn jemand ihm gegenüber angedeutet hätte, Hester habe möglicherweise eine Neigung zu Ohnmächten, so hätte er mit einiger Schroffheit darauf hingewiesen, dass sie sich in einer Krisensituation zweifellos besser bewährte als die meisten anderen Menschen. Als Krankenschwester auf den Schlachtfeldern der Krim hatte sie das mehr als einmal unter Beweis gestellt. Aber er brauchte sich bei Lucius Stourbridge nicht zu entschuldigen. Das war eine notwendige Frage gewesen.
»Wer hat sie weggehen sehen?«, forschte er weiter.
»Mein Onkel, Aiden Campbell, der die meiste Zeit und auch im Augenblick bei uns lebt. Und ich glaube, meine Mutter hat sie ebenfalls weggehen sehen und auch ein oder zwei der Diener und andere Gäste.«
»Und war sie krank?«
»Ich weiß es nicht! Darum geht es doch gerade, Mr. Monk! Niemand hat sie seither wieder gesehen. Und es sind jetzt drei Tage vergangen!«
»Und was haben diejenigen, die sie gesehen haben«, hakte Monk geduldig nach, »Ihnen erzählt? Sie kann doch nicht einfach allein aus dem Garten spaziert sein, ohne Geld oder Gepäck, um spurlos zu verschwinden?«
»Oh… nein«, korrigierte Lucius sich, »der Kutscher, James Treadwell, ist ebenfalls verschwunden und mit ihm natürlich eine der Kutschen.«
»Dann sieht es also so aus, als hätte Treadwell sie irgendwohin gefahren«, schlussfolgerte Monk. »Da sie das Krocketspiel aus freien Stücken verlassen hat, hat sie ihn wahrscheinlich darum gebeten, sie zu fahren. Was wissen Sie über Treadwell?«
Lucius zuckte mit den Schultern, schien dabei aber noch blasser zu werden. »Er arbeitet seit drei oder vier Jahren bei der Familie und ist mit der Köchin verwandt – ein Neffe oder so etwas. So weit ich weiß, ist man absolut zufrieden mit ihm. Sie glauben doch nicht, er könnte… ihr etwas angetan hatten?«
Monk hatte keine Ahnung, aber es war sinnlos, dem jungen Mann weiteren Kummer zu bereiten. Er war ohnehin schon verzweifelt genug.
»Ich halte es eher für wahrscheinlicher, dass er sie lediglich dorthin gebracht hat, wo sie hin wollte«, erwiderte er, aber dann wurde ihm klar, dass seine Antwort keinen Sinn ergab. Wenn es wirklich so gewesen wäre, wäre der Kutscher binnen weniger Stunden zurückgekommen.
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