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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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das Messer vom Finger zu nehmen, packte Shandy den peinigenden Säbel, presste die Kompassnadel wieder tief in seine Hand und trieb dann die Eisenspitze der Klinge in den Kasten.
    Der getrocknete Kopf fiel mit einem Geräusch wie das Zerreißen mürben Stoffes in sich zusammen.
    Hurwood hielt inne, riss die Augen auf, holte dann scharrend Luft und stieß sie in einem Heulen wieder aus, das selbst die am schwersten Verwundeten von Shandys Piraten staunend aufblicken ließ. Dann brach er zusammen und Blut begann aus dem Stumpf seines Armes zu spritzen.
    Mit einem Schaudern ließ Shandy das Schwert wieder fallen und zog das Messer von seinem Finger. Dann begann er unbeholfen, seine verfluchte Jacke mit dem Messer in Streifen zu schneiden und sie als Aderpresse zu benutzen – denn wenn Beth nicht an Bord war, wollte er nicht, dass Hurwood verblutete.
    Schwindel, Übelkeit und Augenblicke totalen Gedächtnisverlustes wirkten zusammen und machten Shandys Durchsuchung der Carmichael zu einer zeitaufwendigen Angelegenheit. Er brauchte vor allem deswegen so lange, weil er sogar in Truhen schaute, in denen Beth Hurwood unmöglich sein konnte, und einige Kajüten zweimal überprüfte, um festzustellen, ob sie hinter seinem Rücken ihr Versteck gewechselt hatte – weil ihm vor dem graute, was er wahrscheinlich würde tun müssen, wenn erst feststand, dass sie nicht an Bord war. Doch der Augenblick kam und schien umso trostloser nach der langen Suche, als er sich eingestehen musste, dass er jeden Quadratzoll des Schiffes inspiziert hatte. Im Frachtraum waren mehr Gold und Juwelen, als sie an einem Tag würden ausladen können, aber keine Beth Hurwood.
    Er kletterte lustlos wieder auf das Hauptdeck hinauf und betrachtete blinzelnd die zerschundenen Männer, die auf ihn warteten, bis er Skank entdeckte. » Hat Hurwood das Bewusstsein schon wiedererlangt?«, fragte er.
    » Soweit ich weiß, noch nicht«, antwortete Skank. » Und, hattest du unten Glück?«
    » Nein.« Shandy wandte sich widerstrebend zu der Kajüte um, in die man Hurwood getragen hatte. » Hol mir ein …«
    Skank trat vor ihn hin, unterstützt von einem Dutzend anderer Männer, die noch gehen konnten; das Gesicht des jungen Piraten war hohl und hart wie vom Sand poliertes Treibholz. » Kapitän«, schnarrte er, » du hast gesagt, er hätte seine gottverdammte Beute an Bord, verflucht sollst du sein, die Sachen von all den Schiffen, die er …«
    » Oh, Beute.« Shandy nickte. » Ja, die ist da. Jede Menge, genau, wie ich gesagt habe. Ich denke, ich habe mir einen Bruch gehoben, als ich eine Kiste Goldbarren zur Seite schieben wollte … greift nur zu. Aber zieht mir zuerst einen Eimer mit Meerwasser herauf, ja? Und schaut, ob ihr nicht … Feuer finden könnt, eine Kerze oder irgendetwas … irgendwo. Ich werde bei ihm in der Kajüte sein.«
    Ein wenig aus der Fassung gebracht, trat Skank zurück. » Oh, sicher, Käpten. Sicher.«
    Shandy schüttelte unglücklich den Kopf, während er zu der Kajütentür humpelte und hineinging. Hurwood lag bewusstlos auf dem Boden, und sein Atem klang wie eine Säge, die langsam hin und her durch trockenes Holz gezogen wurde. Sein Hemd war mehr dunkel als weiß, und fast getrocknete Blutspritzer schwärzten den Boden rund um seine Schulter, aber die Blutung schien gestillt zu sein.
    Shandy stand über ihm und fragte sich, wer der Mann wirklich war. Der Oxfordgelehrte, Verfasser der Verteidigung des freien Willens? Beth’ Vater? Ehemann der unerträglich toten Margaret? Ulysse Segundo, der Pirat? Die Knochen stachen vor in dem Gesicht mit dem offenen Mund, und Shandy versuchte, sich vorzustellen, wie Hurwood als junger Mann ausgesehen hatte. Es gelang ihm nicht.
    Shandy kniete sich neben ihn und schüttelte ihn an der unversehrten Schulter. » Mr. Hurwood. Wacht auf.«
    Das Tempo des Atems veränderte sich nicht und die runzligen Lider flatterten auch nicht.
    » Mr. Hurwood. Es ist wichtig. Bitte, wacht auf.«
    Keine Reaktion.
    Shandy kniete neben ihm, betrachtete den verletzten alten Mann und versuchte, nicht zu denken, bis Skank hereingestolpert kam. Neues orangefarbenes Licht wetteiferte schwächlich mit dem Sonnenlicht von draußen.
    » Wasser«, sagte Skank und stellte einen schwappenden Eimer klirrend auf die Planken, » und eine Lampe.« Nachdem er sich unsicher umgeschaut hatte, stellte er auch diese auf den Boden.
    » Schön«, flüsterte Shandy. » Danke.«
    Skank verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Die

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