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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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für seine Gedanken, und er zwang sich, sich auf seine gegenwärtige Umgebung zu konzentrieren.
    Für dieses Haus war gewiss Geld ausgegeben worden – Shandy wusste, wie teuer und schwierig es gewesen sein musste, all die großen, goldgerahmten Gemälde, die Kristallkronleuchter und Möbel von Europa hierherbringen zu lassen. Nichts in dem Raum war von einheimischer Herstellung; und nach den Gerüchen aus der Küche zu urteilen, war selbst das Essen so englisch wie nur möglich. Es war für Shandy nicht so schrecklich verlockend, da er eine Vorliebe für grüne Schildkröten, Maniokwurzeln und Salmagundisalat entwickelt hatte.
    Einer von Hicks Dienern trat jetzt in den Raum, hob die Stimme, um sich über die Gespräche hinweg verständlich zu machen, und verkündete: » Wenn Sie mir bitte alle folgen würden – das Abendessen wird in Kürze serviert.«
    Die Gäste tranken ihren Punsch aus und schlurften über den Hartholzboden auf die Türen zu, die ins Speisezimmer führten; Shandy lächelte und ließ sich mitziehen, aber er war besorgt – wenn er allen ins Esszimmer folgte, würde schnell offenbar werden, dass kein Gedeck für ihn auflag und dass er nicht eingeladen war. Wo zur Hölle war Hicks? Was Shandy brauchte, war eine Ablenkung, und er schaute sich um, in der Hoffnung, eine besonders fette Person zu sehen, die er unbemerkt zu Fall bringen konnte.
    Gerade als er einen geeigneten Kandidaten entdeckt hatte – einen behäbigen alten Burschen, zur Gänze eingehüllt in mit Spitze umrandeten roten Samt, der sich wahrscheinlich direkt in die Punschschale katapultieren ließ –, kam es ohne seine Hilfe zu einer Ablenkung.
    Am anderen Ende des Ballsaales kamen vier Männer gleichzeitig durch die Türen, was ein beträchtliches Gedränge zur Folge hatte. Der Erste hatte einen adretten Bart und wandte Shandy fast die ganze Zeit den Rücken zu – er schien der Gastgeber zu sein, denn er wedelte mit den Armen und protestierte aus irgendeinem Grund; neben ihm stand ein stämmiger Riese von einem Mann, der mit augenscheinlicher Erheiterung zusah und eine dünne schwarze Zigarre paffte – er war elegant gekleidet, trug aber keine Perücke, was eigenartig war, da sein Kopf vollkommen kahl war; und hinter ihm bestanden zwei britische Marineoffiziere offensichtlich darauf, eingelassen zu werden.
    » Es geschieht zu Eurer eigenen Sicherheit und zur Sicherheit Eurer Gäste«, sagte einer der Offiziere laut, und der Mann, von dem Shandy vermutete, dass es Hicks war, zuckte endlich die Achseln und bedeutete den beiden Marinesoldaten einzutreten. Shandy zog sich unauffällig zurück, sodass er hinter dem fetten Burschen in rotem Samt zu stehen kam – und, nur für den Fall des Falles, näher am Fenster.
    Der kahlköpfige Riese trat beiseite, um die beiden Offiziere durchzulassen, und sein Grinsen hinter der kleinen Zigarre war so verschlagen und wissend, dass Shandy ihn neugierig musterte. Abrupt kam es Shandy so vor, als hätte er diesen Mann schon einmal gesehen, als hätte er Ehrfurcht vor ihm empfunden … obwohl das breite, ungefurchte Gesicht gewiss nicht vertraut war.
    Er bekam jedoch keine Zeit, darüber nachzugrübeln, denn einer der Navy-Offiziere richtete sofort das Wort an die Gesellschaft. » Leutnant MacKinley und ich«, sagte er laut, » werden Euer Abendessen nicht länger stören, als notwendig ist, um Euch alle zu warnen, dass der Pirat Jack Shandy heute für kurze Zeit in Kingston unter Arrest stand; er ist jedoch entkommen und ist auf dieser Insel auf freiem Fuß.«
    Daraufhin regte sich Interesse im Raum, und selbst in seinem plötzlichen Schrecken bemerkte Shandy, dass der kahlköpfige Riese seine buschigen Augenbrauen hochzog und die Zigarre aus dem Mund nahm, um die Gäste einer eingehenden Musterung zu unterziehen. Seine Erheiterung war verflogen und an ihre Stelle war ein Ausdruck wachsamer Vorsicht getreten.
    » Der Grund, warum sie über dieses Ereignis informiert sein sollten«, fuhr McKinley fort, » liegt darin, dass der Pirat sich, nachdem er neue Kleider gekauft hatte, mehrfach nach der Adresse dieses Hauses erkundigt hat. Er wird als gut gekleidet beschrieben, trägt aber weiße Lederhandschuhe, die an den Säumen Blutflecken zeigen.«
    Der stämmige Mann vor Shandy wandte sich schwerfällig um und zeigte auf Shandys behandschuhte Hände. Er bewegte aufgeregt die Lippen und versuchte, etwas hervorzubringen.
    Leutnant MacKinley hatte die Bestürzung des alten Mannes noch nicht bemerkt –

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