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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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Kokosnüssen, also nestelte er unauffällig an dem Innenfutter seines Gürtels, riss die losen Stiche auf, die er am Morgen genäht hatte, und fummelte einige der Gold-Escudos heraus, die er in das Futter eingenäht hatte. Er betrachtete die Münzen in seiner behandschuhten Hand. Das, dachte er, sollte reichlich genug sein für neue Kleider und ein gutes Schwert.
    Er blieb stehen, als ihm ein Gedanke kam, dann grinste er und ging weiter, aber nach einigen Schritten blieb er erneut stehen. Nun, sagte er sich, warum nicht – es kann nicht schaden, und du kannst es dir gewiss leisten. Ja, du kannst geradeso gut auch einen Kompass kaufen.

Kapitel 29
    Irgendwie ließ die Tatsache, dass Weihnachten war, die Eigenheiten des Landes noch deutlicher hervortreten: die warmen Gerüche von Punsch, gebratenem Truthahn und Plumpudding wetteiferten mit dem wilden, würzigen Duft des Dschungels, der durch die Fenster wehte, das gelbe Lampenlicht und die prächtige Geigenmusik, die durch die offenen Fenster nach draußen drangen, wurden dort bald von der Dunkelheit und dem Knarren der Palmen in der tropischen Abendbrise verschluckt; und die Gäste der Dinnerparty selbst schienen sich in ihrem europäischen Feststaat ziemlich unwohl zu fühlen. Ihr Gelächter hatte etwas Defensives, und ihre Schlagfertigkeit schien vergebens bemüht, zumindest dann und wann auch etwas geistreich zu sein.
    Das Fest war gut besucht. Es hatte sich herumgesprochen, dass Edmund Morcilla zugegen sein würde, und viele der wohlhabenden Bürger Jamaikas, die neugierig auf den reichen Neuankömmling waren, hatten sich dafür entschieden, die Gastfreundschaft von Joshua Hicks anzunehmen, der selbst abgesehen von seiner Straßenadresse nur wenig zu bieten hatte.
    Und ihr Gastgeber war offenkundig überglücklich über den Erfolg, der der Abend bisher gewesen war. Er wuselte von einem Ende des breiten Ballsaals zum anderen, küsste die Hände der Damen, sorgte dafür, dass die Gläser allzeit gefüllt waren, und kicherte leise über witzige Bemerkungen; nur wenn er mit niemandem redete, schaute er sich ängstlich um und strich sich mit manikürten Händen die Kleider und den gut gepflegten Bart glatt.
    Um acht Uhr warteten die ankommenden Pferde und Kutschen tatsächlich in einer Schlange vor dem Haus, und Sebastian Chandagnac sah sich außerstande, jeden Gast persönlich zu begrüßen – obwohl er beflissen auf den hochgewachsenen Edmund Morcilla zueilte und ihm die Hand schüttelte –, und es fügte sich, dass ein Mann unbemerkt hereinschlüpfte und ohne Widerspruch zu dem Tisch ging, auf dem die kristallene Punschschale stand.
    Seine Erscheinung erregte keine besondere Aufmerksamkeit, denn keiner der eingeladenen Gäste konnte wissen, dass er seine Perücke, das Schwert und die samtene Jacke erst an diesem Nachmittag mit Piratengold gekauft hatte; sein Gang hatte vielleicht etwas mehr von der breitbeinigen Fortbewegungsart des Seemannes, als man es von einem so elegant gekleideten Herrn erwartet hätte, und seine behandschuhte Hand blieb dem Griff seines Rapiers vielleicht etwas näher, als es den Geboten der Höflichkeit entsprochen hätte, aber man war hier schließlich in der Neuen Welt, und fern der Heimat blieb einem oft nichts anderes übrig, als sich auch weniger angesehene Fertigkeiten anzueignen. Der Diener, der an der Punschschale arbeitete, füllte einen Becher und reichte ihn ihm, ohne ihn eines zweiten Blickes zu würdigen.
    Shandy ergriff den Becher Punsch und nippte daran, während er den Blick durch den Raum wandern ließ. Er war sich nicht sicher, wie er verfahren sollte, und sein einziger Plan bisher bestand darin, herauszufinden, welcher von diesen Männern Joshua Hicks war, ihn für eine Weile allein zu erwischen und ihn dazu zu bringen, ihm zu verraten, wo Beth Hurwood gefangen gehalten wurde. Dann wollte er sie befreien, ihr hastig das eine oder andere mitteilen und versuchen, von dieser Insel zu fliehen.
    Der heiße Punsch, scharf von Zitrone und Zimt, erinnerte Shandy an Weihnachtsfeste in seiner Jugend, wenn er mit seinem Vater durch die verschneiten Straßen irgendeiner europäischen Stadt in die Wärme des unausweichlichen Mietzimmers eilte, wo sein Vater zumindest ein symbolisches Weihnachtsessen zubereitete und sie an dem Feuer aßen, das funkelnde Blitze in die Glasaugen der vielen Dutzend hängenden Marionetten warf.
    Keine dieser Erinnerungen – sein Vater, verschneite Winter oder Marionetten – war ein angenehmes Thema

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