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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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Buch 2
    Vom Land der Geburt abgeschnitten,
    Vom Land unserer Suche getäuscht,
    Wohin vor uns die Klügsten gingen,
    Und die Dümmsten kommen weit hinterdrein –
    Hoch die Gläser, Achtung geboten!
    Es bleibt uns zu besingen nur dies:
    Ein Becher auf die Toten,
    Ein Hurra dem Nächsten, der stirbt!
    Bartholomew Dowling

Kapitel 9
    Die starke abendliche Seebrise richtete die drei vor der Küste ankernden Schiffe parallel zueinander aus und trieb die Funken der Feuer, die am Strand brannten, in die schwarzen Zypressensümpfe Floridas. Aus dem Pfahlbau, den die Piraten auf einer sandigen Anhöhe direkt landeinwärts der Feuer errichtet hatten, spähte Beth Hurwood hinaus zum Himmel und zum Meer. Sie füllte ihre Lungen mit der kühlen Meeresluft und betete, dass die Brise über Nacht anhalten würde. Sie wollte nicht ein Drittel der Nacht eingesperrt in dem stickigen » Moskitokäfig« zubringen, den zu bauen ihr Vater die Piraten gezwungen hatte – einen Kasten mit Segeltuchwänden, der gerade groß genug war, um darin zu liegen. Sie hätte nie gedacht, dass sie einmal in liebevoller Erinnerung auf die zweieinhalb Jahre zurückblicken würde, die sie in einem Kloster in Schottland zugebracht hatte, aber jetzt betrauerte sie den Tag, an dem ihr Vater sie von dort geholt hatte. Die bleichen Schwestern in ihren Roben und Hauben hatten buchstäblich nie gesprochen, die Räume waren aus schroffem, altem Stein gewesen, und zu essen hatte es nie etwas anderes gegeben als einen öligen grauen Haferbrei mit Klumpen schlaffen Gemüses darin. Außerdem hatte es im ganzen Kloster kein Buch gegeben, nicht einmal eine Bibel – tatsächlich hatte sie nie erfahren, zu welchem Orden die Schwestern gehörten, noch auch nur, zu welcher Art von Glauben; es hatte keine Bilder gegeben, keine Statuen oder Kruzifixe, und nach allem, was Beth wusste, hätten sie auch Moslems sein können – aber zumindest hatten sie sie in Ruhe gelassen, und es hatte ihr frei gestanden, durch den Garten zu schlendern und die Vögel zu füttern oder auf dem Wehrgang oben auf der Mauer zu stehen und die Straße jenseits der Heide zu betrachten, in der Hoffnung, Fremde zu sehen. Ab und zu sah sie tatsächlich jemanden, einen Bauern mit seinem Karren oder einen Jäger mit Hunden, aber obwohl sie ihnen zuwinkte, eilten sie immer davon – beinahe so, als fürchteten sie sich vor dem Kloster. Nichtsdestoweniger hatte sie sich jenen fernen, eiligen Gestalten näher gefühlt als den äußerst distanzierten Schwestern. Für dies e Fr auen war schließlich jeder in ihrem Leben ein Fremder.
    Mit dreizehn hatte Beth ihre Mutter verloren und damals war ihr Vater für sie zu einem Fremden geworden. Er hatte seine Stellung in Oxford aufgegeben, seine Tochter der Obhut von Verwandten überlassen und war dann fortgegangen – beschäftigt mit » unabhängigen Studien«, hatte er einmal gesagt. Und sie war fünfzehn gewesen, als er Leo Friend kennengelernt hatte.
    Das Schlurfen von Stiefeln im Sand holte sie in die Wirklichkeit zurück, und sie stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass nicht Friend der Urheber war. Blinzelnd gegen das Nachbild der Sonne erkannte sie den Mann nicht, bis er die Stufen hinaufgekommen war und sich unter das niedrige Strohdach duckte; dann lächelte sie beinahe, denn es war nur der alte Stede Bonnett. Er war erst gestern mit seinem Schiff, der Revenge, eingetroffen, aber obwohl er ein Piratenkapitän war und angeblich ein Partner von Schwarzbart, schien er eine gute Erziehung genossen zu haben. Ihm war weder die spöttische, sardonische Munterkeit eines Mannes wie Philip Davies zu eigen, noch war er von derselben Wildheit besessen wie ihr Vater. Beth fragte sich, was ihn zum Piraten hatte werden lassen.
    » Es tut mir leid«, murmelte er und zog tatsächlich seinen Hut vor ihr. » Mir war nicht bewusst …«
    » Das ist schon in Ordnung, Mr. Bonnett.« Sie deutete auf den Holzklotz, der als Bank diente. » Nehmt doch Platz.«
    » Danke«, sagte er und ließ sich auf der Bank nieder. Ein Vogel mit langem Hals flatterte aus den Sümpfen und stieß ein Kreischen aus, bei dem Bonnett zusammenzuckte. Argwöhnisch betrachtete er den Vogel.
    » Ihr … scheint nicht sehr glücklich zu sein, Mr. Bonnett«, bemerkte Beth.
    Darauf sah er sie an und zum ersten Mal schien er sie wirklich zu sehen. Er leckte sich über die Lippen und lächelte zögerlich, aber einen Moment später kehrte sein besorgtes Stirnrunzeln zurück und er

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