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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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» Warum, könnt Ihr es nicht?«
    » Oh, natürlich kann ich es«, beteuerte Bonnett hastig. » Ich habe nur, ähm, gedacht, wie es ist, wenn ich vielleicht schlafe. Wie dem auch sei, wenn wir einfach nach Süden fahren, werden wir über kurz oder lang auf die Handelsrouten geraten, und dann«, fuhr er fort, während er zur Leiter hinübertrat, » wenn ich weit genug von ihm wegkommen kann, bevor er von meiner Flucht erfährt, wird er mich vielleicht nicht zurückrufen können.«
    Dies beruhigte Beth nicht gerade, aber sie folgte ihm die Leiter hinunter auf den Strand. Dann trennten sich ihre Wege. Sie hoffte, um die drei Feuer herum ans Ufer zu gelangen, ohne dass der allzeit wachsame Leo Friend sie sah.
    Langsam und nachdenklich, das pummelige Gesicht von Linien aufrichtigen Grams beinah veredelt, stapfte Stede Bonnett den sandigen Hang hinunter zu den Feuern. Seine Stiefel machten Geräusche wie träge Grillen, wenn die Ledersohlen über das Dünengras schleiften.
    Das Gespräch mit Hurwoods Tochter über ihre bevorstehende Flucht und die traurige Tatsache, dass er sich von ihr hatte erregen und törichterweise sogar zu der Annahme verleiten lassen, sie könnte seine Gefühle erwidern, hatten in ihm in einem viel zu schmerzhaften Maß von Klarheit die Erinnerung an das Leben geweckt, das ihm vor drei Monaten gestohlen worden war. Aber natürlich konnte er, selbst wenn ihm die Flucht vor Schwarzbart gelang und er den Straferlass annahm, kaum nach Barbados und zu seiner Frau zurückkehren. Darin lag ein gewisser Trost.
    Vielleicht konnte er in irgendeinem anderen Land und unter einem anderen Namen von Neuem beginnen – er war schließlich erst achtundfünfzig; wenn er maßvoll und vernünftig lebte, hatte er noch ein gutes Jahrzehnt vor sich, bevor es Zeit wurde zu beten. Es würde immer noch so manche junge Frau für ihn geben, auf die er ein Auge werfen konnte.
    Für einen Moment verzog ein Lächeln sein Gesicht und seine Hände liebkosten eine imaginäre Gestalt. Er verspürte die alte Zuversicht, das alte Selbstvertrauen – die Ehefrau, die er vor vier Jahren geheiratet hatte, hatte ihm beides genommen, hatte ihn zu einem feigen kleinen Mann gemacht, obwohl er einst ein strenger Offizier gewesen war. Aber als er die Mädchen in Ramonas Etablissement kennengelernt hatte, war sein Selbstbewusstsein wiederhergestellt worden. Bei diesem Gedanken fiel ihm allerdings wieder ein, wie er das letzte dieser Mädchen zurückgelassen hatte, und er versank unverzüglich in der Agonie, in der er die letzten drei Monate lang verharrt hatte. Seine runzligen alten Hände fielen schlaff herab.
    Draußen auf dem rötlich glitzernden Antlitz des Meeres lag – im Schattenriss wie das aufrechte, schwarze Skelett eines Meeresungeheuers anmutend – Schwarzbarts Queen Anne’s Revenge reglos vor Anker. Bonnett wandte unverzüglich den Blick ab, weil er sich nicht sicher war, ob Schwarzbart seine Gedanken nicht entlang der Linie seines Blickes erraten konnte.
    Diese Flucht musste Erfolg haben, dachte Bonnett, während er den Abhang hinunterstapfte, der nach unten immer sumpfiger wurde. Gott sei Dank hatte der König einen umfassenden Straferlass angeboten! Nichts von alledem war seine Schuld gewesen, aber kein Geschworenengericht würde das jemals glauben. Welcher Jurist konnte verstehen, wie ein Hunsi Kanzo das Blut eines Mannes benutzen konnte, um dessen Gedanken von seinem Körper zu trennen? Ich habe die Revenge nicht ausgerüstet, dachte er, ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich es war, der bei Ramona dieses letzte Mädchen getötet hat, obwohl ich zugeben werde, dass es meine Hand war, die das Stuhlbein geschwungen hat – wieder und wieder und wieder, sodass mir tagelang, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, die Schulter geschmerzt hat. Und selbst wenn ich es war, so stand ich unter Drogen … und wer hatte gerade dieses Mädchen für mich ausgewählt, mit genau diesen Gesichtszügen, und wer hatte ihr gesagt, dass sie diese Worte und diesen Tonfall benutzen musste?
    Ein schrecklicher Gedanke kam ihm, und er stolperte, rutschte etwa einen Schritt weiter und stürzte beinahe. Warum sollte er annehmen, wie er es bis jetzt getan hatte, dass Schwarzbart zum ersten Mal bei Ramona auf ihn aufmerksam geworden und erst da zu dem Schluss gekommen war, dass ein vermögender, landbesitzender Offizier einen nützlichen Partner abgeben würde? Was, wenn – und trotz all der Schwierigkeiten, in denen er steckte, brannte Bonnetts

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