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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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wandte den Blick von ihr ab. » Glücklich? Ha – wer wäre das, nach diesem Spektakel in Charles Town. Bevor Thatch das Lösegeld verlangte, dachten sie, wir wollten die Stadt einnehmen. Ich habe sie mit dem Fernrohr beobachtet, Frauen und Kinder, die weinend durch die Straßen liefen – Jesus – und weshalb? Eine Truhe mit Kräutern für die schwarze Kunst, und für ihn die Erkundung des Ocracoke-Inlets. Und ich ertappe mich dabei, dass ich Dinge sage, Dinge tue … selbst meine Träume sind nicht länger meine eigenen …«
    Der Wind drehte etwas und wehte Beth das lange Haar übers Gesicht. Verspätet roch sie den Brandy in Bonnetts Atem. Ein Gedanke kam ihr, aber aus Angst vor Enttäuschung zwang sie die plötzlich aufbrandende Hoffnung nieder.
    Sie biss sich auf die Unterlippe. Sie würde vorsichtig sein müssen …
    » Wo ist eigentlich Eure Heimat?«, erkundigte sie sich.
    Lange Zeit schwieg er, und sie fragte sich, ob er sie nicht gehört hatte oder nicht beabsichtigte zu antworten. Ich muss weg von hier, dachte sie; ich weiß genau, dass meine geistige Verfassung an einem normalen Ort, fernab von Friend und meinem Vater, nicht mehr so labil, unberechenbar und gefährdet sein wird.
    » Auf Barbados«, sagte er leise. » Mir … hat … eine Zuckerrohrplantage gehört.«
    » Ah. Die Plantage war kein Erfolg?«
    » Es ging mir gut«, erwiderte er heiser. » Ich war Major der Armee im Ruhestand, ich hatte Sklaven und Ställe, die Plantage blühte und gedieh … ich war ein geachteter Mann.«
    Beth widerstand dem Impuls, ihn zu fragen, warum er sich der Piraterie zugewandt hatte, wenn das alles der Wahrheit entsprach. Stattdessen fragte sie ihn nur: » Würdet Ihr gern dorthin zurückkehren?«
    Wieder sah er sie an. » Ja. Aber das kann ich nicht. Man würde mich hängen.«
    » Nehmt das Begnadigungsangebot des Königs an.«
    » Ich …« Er steckte einen Finger in den Mund und kaute am Nagel. » Das würde Thatch mir niemals erlauben.«
    Beth’ Herz hämmerte. » Wir könnten uns heute Nacht davonstehlen, Ihr und ich. Sie sind alle abgelenkt von ihrem Vorhaben am Fluss.« Ihr Blick ging nach rechts, folgte dem Verlauf der Küste, und sie fragte sich, warum sie dieses Sumpfland als Fluss bezeichneten.
    Bonnett lächelte nervös und leckte sich wieder die Lippen, und einmal mehr roch sie den Brandy. » Ihr und ich«, wiederholte er und streckte eine pummelige Hand aus.
    » Richtig«, sagte sie und trat von ihm weg. » Flucht. Heute Nacht. Wenn der Hunsi Kanzo oben am Fluss beschäftigt ist.« Die Erwähnung Schwarzbarts ernüchterte Bonnett, und er runzelte die Stirn und begann von Neuem, an seinem Fingernagel zu kauen.
    Beth Hurwood, die ihn die verzweifelte Hoffnung in ihren Augen nicht sehen lassen wollte, wandte den Blick von ihm ab und schaute wieder zum Sumpf hinüber. Vielleicht, dachte sie, nennen sie es einen Fluss, weil er in gewisser Weise tatsächlich einer ist. Hier neigten alle binnenländischen Gewässer dazu, nach Westen zu fließen, wenn auch meist so langsam wie Brandy, der durch einen Obstkuchen sickerte. Der tief über dem Boden hängende Abendnebel folgte dem Lauf des Gewässers und würde bald eine ungeschützte Person so gründlich durchnässen, als tauche sie völlig ins Wasser ein.
    Beth schloss die Augen. Dass sie diesen Sumpf als Fluss bezeichneten, schien typisch zu sein für die Art, wie diese grässliche Neue Welt funktionierte – alles war noch roh und ungeformt hier draußen am westlichen Rand der Welt und hatte nur die entfernteste Ähnlichkeit mit der besiedelten und zivilisierten östlichen Hemisphäre. Und obwohl sie jetzt hörte, dass Bonnett auf dem Holzklotz umherrutschte, und sich schnell zu ihm umdrehte, kam ihr flüchtig der Gedanke, dass die unkultivierte Natur dieser Länder einer der Gründe sein mochte, aus denen ihr Vater hergekommen war und sie mitgenommen hatte.
    Bonnett beugte sich vor und in dem frühen Zwielicht konnte sie das Stirnrunzeln zaghafter Entschlossenheit auf seinem pummeligen alten Gesicht sehen. » Ich werde es tun«, sagte er beinahe im Flüsterton. » Ich denke, ich muss. Ich denke, wenn wir heute Nacht den Fluss hinaufgingen, wäre das mein Ende … obwohl mein Körper zweifellos immer noch gehen und sprechen und Thatchs Befehle ausführen würde.«
    » Sind im Moment genug Männer an Bord Eures Schiffes, um es zu segeln?«, fragte sie. Sie stand so schnell auf, dass die Hütte auf ihren Holzpfählen schwankte.
    Bonnett schaute blinzelnd zu

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