In Gedanken bei dir (German Edition)
Borke, ohne Äste, ohne Laub, zu ihren Füßen die umgestürzten
Stämme, deren Holz sich rötlich braun zerfaserte, zu Spänen, Splittern, Staub.
Aus diesem Staub wuchs überall das neue Leben. Rotlaubige und grünblättrige
Büsche, hohe dunkle Tannen und ein Meer von weißen, gelben, rosa, violetten und
roten Blüten. In der hellen Morgensonne leuchteten die Farben wie ... ja, wie
im Frühling! Alles grünte und blühte, und Cassie konnte gar nicht aufhören zu
schauen und zu staunen. Das Leben fand seinen Weg – wie dieser schmale Pfad,
auf dem sie Alex folgte: Er kreuzte einen umgestürzten Stamm, der quer über dem
Weg lag. Zu beiden Seiten des Pfades war das Holz mit einer Säge durchtrennt
worden, und der Weg führte mitten hindurch.
Das
Leben fand seinen Weg – dieser hoffnungsvolle Gedanke ging ihr nicht mehr aus
dem Sinn, während sie mit beiden Händen über die wuchernden Büsche, Gräser und
Blüten strich. Das blühende Fireweed reichte ihr bis zu den Schultern und
bedeckte fast völlig die knorrigen Baumwurzeln.
Schon
bald öffnete sich die Landschaft und gab den Blick auf die noch immer kahlen
Berghänge mit den aufrecht stehenden, nackten Baumstämmen rund um den See frei.
Dann führte sie der Weg durch ein kleines Wäldchen aus hohen Tannen. Hatten die
etwa überlebt? Cassie hatte keine Ahnung, wie alt diese Bäume waren! Vögel
flatterten zwitschernd auf, Streifenhörnchen flitzten über den Weg. Und, hey,
da drüben lag ein Murmeltier auf dem sonnenwarmen Stein!
Staunend,
nein ergriffen, folgte sie Alex zum Meta Lake.
Mit
übergeschlagenen Beinen hockte er auf der niedrigen Steinbrüstung am kleinen
See und wartete auf sie. Als Cassie die gemauerte Plattform betrat, von der sie
den Blick über den spiegelglatten See und das wogende Schilf am Ufer genießen
konnte, sprang er auf und kam zu ihr herüber. »Und?«
»Mir
kommen die Tränen, so überwältigt bin ich. Es ist atemberaubend, einfach
wunderschön.«
»Ein
magischer Ort. Es gibt sie, diese Stellen, an denen du verborgene Kräfte spüren
kannst.«
»Ja,
das stimmt. Ich kenne solche Orte, in denen du dich anders fühlst. Am
Grand Canyon, wo du denkst, hier ist die Welt entstanden. In Cathedral Grove in
Muir Woods, wo du glaubst, die gewaltigen Sequoias seien die Säulen des Himmels
und ihre Kronen das Gewölbe.«
»Ich
komme oft her«, sagte er leise, fast andächtig, und nickte dabei. »Ich schöpfe
Kraft aus dieser Stille.«
»Das
verstehe ich«, seufzte sie und spürte der stillen Freude nach, die sie
erfüllte. Was hatte diese entspannende und beruhigende Wirkung auf sie, die sie
den Schmerz und das Leid der letzten Monate vergessen ließ? Dieser Garten des
Lebens, das gleißende Licht auf dem Wasser, die schweren Düfte von Erde, Holz
und Blüten, die Stille jenseits des Hämmerns der Spechte, die die abgestorbenen
Bäume zu Nisthöhlen für ihre Kleinen umfunktioniert hatten? Oder Alex?
Während
Cassie den Blick gelöst, fast beschwingt, über den kleinen See schweifen ließ,
genoss sie den warmen Wind auf ihrem Gesicht und in ihrem Haar.
Ich
muss mit Alex reden, dachte sie. Ich kann nicht länger warten.
Sie
atmete tief durch.
Und
dann?
Wenn
Alex mich nach San Francisco begleitet, wenn er Jolie umarmt, wenn er neben mir
an ihrem Bett steht, während sie immer schwächer wird und schließlich stirbt,
was dann? Seit dem Aufwachen heute Morgen auf der Verandaschaukel, seit dem Frühstück
mit heißen Waffeln und Ahornsirup stellt sich mir nicht nur die Frage, was
eigentlich schwerer wiegt: Jolies Herzenswunsch, ihren Daddy zu umarmen,
während sie stirbt, oder Alex’ unbeschwertes Lebensglück mit Marlee und ihren
Kindern. Ich stehe plötzlich noch vor einer anderen Entscheidung, die mir den
Boden unter den Füßen wegzieht: Alex oder Nick. Wen liebe ich mehr? Um wen will
ich kämpfen? Und wen muss ich loslassen?
Unwillkürlich
drehte sie den Ring an ihrem Finger. Der Ring besiegelte die Trauung, die Treue
zweier Partner, das Vertrauen zweier Liebender ... aber war er auch ein Zeichen
von Trost? Von Hoffnung und Liebe?
Ich
muss Alex von Jolie erzählen, dachte sie. Jetzt.
Aber
wie?
Sie
hatte Herzklopfen, und wie. Aber da war noch ein anderes Gefühl, ein sanftes
Ziehen, das sie nicht genau benennen konnte.
Abrupt
wandte sie sich ab und ging einige Schritte zur Steinbrüstung der kleinen
Plattform am See. Hinter einer niedrigen Mauer aus Feldsteinen wuchsen hohe,
starke Tannen. Cassie kletterte über das Mäuerchen,
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