In Gedanken bei dir (German Edition)
was
zeigen!«
»Und
was?«
»Das
Miner’s Car.«
Vor
dem rostigen Autowrack blieben sie stehen. Der alte, vom Rost zerfressene
Pontiac sah aus, als bestünde er aus zarten, zerbrechlichen
Schokoladenplättchen, in der Sonne geschmolzen und verlaufen. Die Kühlerhaube
war über dem Motor zusammengesackt und zerborsten, die Kotflügel bildeten
scharfe ledrige Falten, das Dach war auf die Sitze herabgesunken, der
Kofferraumdeckel stand offen, und darunter schimmerte das noch immer blanke
Chrom der Stoßstange. Was sie wunderte: Da war noch ein Reifen! Nach
zweiunddreißig Jahren!
Ergriffen
schüttelte Cassie den Kopf. »Was ist denn hier passiert?«
Alex
legte seinen Arm um sie und hakte seinen Daumen in die Gürtelschlaufe ihrer
Jeans. »Das Miner’s Car ist ein Mahnmal. Das Auto gehörte einer Familie, die
während des Ausbruchs hier starb. Am Morgen des 18. Mai 1980 raste eine
dreihundert Meilen pro Stunde schnelle Druckwelle aus giftigem Gas, heißer
Asche und fliegenden Felsen durch dieses Tal, vernichtete den jahrhundertealten
Wald und tötete die Parkers. Was blieb, war eine triste, graue, verwüstete
Landschaft aus umgeknickten Baumstämmen, Felsen und Asche. Und mittendrin,
aufspießt von einem Stamm, stand dieser alte Pontiac. Die Parkers wurden nie
gefunden. Das Miner’s Car ist für mich ein Mahnmal. Hier gedenke ich der
siebenundfünfzig Toten, die dem Vulkan zum Opfer fielen. Und hier mache ich mir
immer wieder klar, wie wichtig mein Job als Geologe ist, den Vulkan zu
erforschen und zu überwachen, damit am Mount St Helens nie wieder jemand
sterben muss wie damals die Parkers. Meine Forschungen helfen Menschen überall
auf der Welt, die im Schatten von Vulkanen leben. Hier mache ich mir immer
wieder klar, dass ich viele von ihnen retten konnte.«
Cassie
nickte langsam.
Das
Autowrack war ein Gedenkstein, umkränzt von weißen Blüten, die unter dem rostigen
Blech hervorwuchsen, und von zersplitternden, zerfallenden Baumstämmen. Es
machte sie betroffen, nein, das Wort war falsch, das traf es nicht: Es
erschütterte sie, und ihr Herz verkrampfte sich, als stünde sie an einem Grab.
Dieser
rostige Pontiac war etwas anderes, als einen Vulkan zu sehen, dem der Gipfel
fehlte, eine Bimssteinebene mit aufwirbelnder Asche, kahle Berghänge, von denen
die Eruption die Erde weggerissen hatte, einen See, in dem Tausende von Stämmen
trieben, einen Fluss, der unter einer Schicht aus Geröll und Schlamm begraben
lag. Die Landschaft um den Mount St Helens schien aus einem Katastrophenfilm
wie Dante’s Peak mit Pierce Brosnan zu stammen. Aber das Miner’s Car war
... irgendwie real.
Plötzlich
hatte sie wieder die Bilder des Ausbruchs vor Augen, die sie vorgestern in
einem Video des US Geological Survey gesehen hatte. Die wegbrechende
Nordflanke, die gewaltigen Explosionen, die gigantische schwarze Rauchwolken
aufwirbelten und die Felsbrocken aus dem Gipfel meilenweit schleuderten, die
Flutwelle im Spirit Lake, die tausende Bäume von den Hängen riss, die
Schlammlawine im Toutle River. Bären, gerade aus dem Winterschlaf erwacht,
erstickten in der heißen Asche, Luchse und andere kleine Tiere starben, als die
Druckwelle über das Land fegte, Lachse und Forellen wurden in den Seen und
Flüssen gekocht. Ja klar, das alles stellte man sich vor, wenn man an den
Ausbruch dachte. Aber dass Menschen dabei starben?
Cassie
wusste nicht, was sie sagen sollte, und nickte nur.
Alex
legte den Arm um ihre Schulter und rüttelte sie sanft. »Kommst du? Ich will dir
mein Paradies zeigen.«
»Okay.«
Bis
zum nächsten Parkplatz waren es nur wenige Schritte über den Highway. Noch
immer kamen ihnen verschwitzte Radrennfahrer entgegen und winkten ihnen zu. Das
leise Sirren, das einzige Geräusch in dieser Wildnis, blieb hinter ihnen
zurück, als sie den schmalen Weg zum Meta Lake einschlugen.
In
der tiefen Stille veränderte sich etwas in ihr. Konnten Bäume, Sträucher und
Blumen trösten? Konnten sie den Schmerz lindern, die Angst, die Traurigkeit?
Konnte das neue Leben Hoffnung schenken, Ruhe, Frieden, und den Tod für einen
Augenblick vergessen lassen? Auf dem schmalen Weg zum Meta Lake glaubte Cassie
daran, und sie war Alex dankbar, dass er sie hierher gebracht hatte.
Ein
geheimer Garten des Lebens – das war das erste, was ihr in den Sinn kam, als
sie Alex folgte. Er lief vor und ließ sie in Ruhe alle Eindrücke in sich
aufnehmen. Die alten, silbrig schimmernden Bäume, alle in derselben Höhe
umgeknickt, ohne
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