In Gedanken bei dir (German Edition)
Cassie
und Nick, die bunten Ikea-Kinderstühle, die Plastikboxen mit Bilderbüchern,
Playmobil und Lego neben dem Infusionsständer – das alles nahm er mit einem
Blick in sich auf. Aus einem praktisch eingerichteten Krankenzimmer mit weißen
Wänden und düsterem Licht hatte Cassie ein helles, kunterbuntes Kinderzimmer
gemacht.
Auf
dem Bett saß Jolie auf Cassies Schoß und sah ihm entgegen. Ihr Gesicht war
blass und verkniffen, und obwohl Alex Fotos und Videos von ihr gesehen hatte,
schockierte ihn der wollene Beanie, den sie auf ihrem kahlen Kopf trug, und
fügte ihm körperliche Schmerzen zu – ein Stechen in seiner Brust und ein
kribbelndes Gefühl von Kälte in seinen Fingern, als flösse Eiswasser durch
seine Adern.
Wie
kann Glück so wehtun?
»Daddy!«,
flüsterte Jolie mit aufgerissenen Augen.
Cassie
packte sie unter den Achseln und stellte sie auf den Boden. »Lauf zu ihm und
umarme ihn, Süße. Halt ihn ganz fest.«
In
ihren niedlichen Plüschdelfin-Hausschuhen flitzte Jolie zu ihm herüber und warf
sich mit Anlauf in seine Arme. Die Tränen flossen ihr übers Gesicht. Als Alex
sie schwungvoll hochhob, schlang sie Arme und Beine um ihn und klammerte sich
wimmernd an ihm fest. Ihren Kopf presste sie an seine Schulter, ihren zarten
Körper gegen seinen, und er konnte ihr kleines Herz flattern hören, es schlug
so schnell wie seines. Zwei Beben, die zwei Leben erschütterten, gingen in
Resonanz, und ihre Herzen begannen, in demselben Takt zu schlagen. Und das
würden sie für den Rest ihres Lebens tun.
Seine
Augen brannten vor heißen Tränen, als er Jolies Nacken und Wange küsste, und
sie richtete sich auf seinem Arm auf und plinkerte ihn an.
Gerührt
flüsterte er: »Noch nie ist ein Kind so sehr geliebt worden wie du, mein
Sternchen.«
»Und
noch nie ...« Jolie überlegte kurz mit dem Zeigefinger an der Oberlippe. »...
noch nie ist ein Daddy ... so sehr gewünscht worden wie du, Daddy.«
»Ich
will nirgendwo anders sein, Jolie, nur hier bei dir.«
»Und
ich bei dir. Ich hab dich lieb, Daddy.« Jolie lehnte ihr tränennasses Gesicht
gegen seinen Hals, und Alex spürte ihren fiebrig heißen Atem in seinem Nacken.
Wie
lange sie so standen, um einander zu spüren, den Atem, den Herzschlag, das
pulsierende Leben, die wärmende Liebe, wusste er nicht. Nicht lange genug, um
die Trennung wieder gutzumachen und die verlorenen Jahre nachzuholen.
Was
habe ich alles verpasst!, dachte er. Ihr ganzes Leben, von den Worten »Wir
bekommen ein Baby!«, die eine scheinbar fest gefügte Welt zum Einsturz bringen
... von den ersten zarten Klopfzeichen: »Hallo, ich bin hier drin in Mommys
Bauch! Bist du mein Daddy?« ... vom ersten hinreißenden Lächeln und dem ersten
mutigen Griff eines Babyhändchens nach Daddys ausgestrecktem Finger ... bis zu
gemeinsamen Expeditionen zum Kinderspielplatz, wo ich meiner kleinen Tochter
das Fahrradfahren beibringe, sie festhalte, während sie aufsteigt, in die
Pedale tritt und schlingernd losfährt, und sie tröste, wenn sie stürzt.
Wie
viele Geschichten habe ich ihr nie vorgelesen, wie viele Lieder nie mit ihr
gesungen, wie viele Kinderfragen nie beantwortet. Wie oft habe ich nicht mit
ihr gelacht, wie oft habe ich sie nicht getröstet, als sie sich in den Schlaf
geweint hat, wie oft haben wir nicht gekuschelt und geschmust.
All
diese Augenblicke des Glücks sind für immer verloren, und Jolie und ich können
sie nie mehr nachholen und festhalten. Wir können einander nur noch loslassen.
Und für immer Abschied nehmen.
Der
Schmerz überwältigte Alex wie eine heiße Druckwelle, und er taumelte unter dem
jähen Ansturm der Gefühle.
Cassie
spürte, was in ihm vorging und wie aufgewühlt er war. Sie trat zu ihm, nahm ihm
Coops Plüschherz aus der Hand und warf es aufs Bett. Jolie schluchzte wimmernd
auf, als Cassie ihre Arme um ihren Mann und ihre Tochter legte.
Blind vor Tränen tastete Nick sich mit der
ausgestreckten Hand an der Wand entlang bis zu den Kinderzeichnungen.
Seine
Lippen zuckten, sein Gesicht verkrampfte sich, dann stieg ein Seufzen, ein
ersticktes Schnaufen in seinem Inneren auf wie eine Luftblase, die ein Taucher
unter Wasser ausatmet. Schmerzhaft weitete es seine Lunge, wand sich durch
seine Kehle und entlud sich in einem Schluchzen.
Jolies
letztes Bild, auf dem sie mit durchscheinenden Engelflügelchen über die
blühende Wiese auf den Betrachter zurannte, verschwamm hinter dem wogenden
Schleier von Tränen. An wen hatte
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