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In goldenen Ketten

In goldenen Ketten

Titel: In goldenen Ketten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carter Brown
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höhlenartige Wohnraum war in tiefes Dunkel
gehüllt, und ich blieb auf der Schwelle stehen, während ich darauf wartete, daß
sich meine Augen an die Finsternis gewöhnten. Ungefähr fünf Minuten später
drang irgendwo aus der Dunkelheit ein schwaches Wimmern. Meine Nackenhaare
sträubten sich leicht.
    Aber die Vernunft gewann die
Oberhand über die primitiven Empfindungen, die mein Inneres im Augenblick
beherrschten, und ich wies mir selbst mit ätzender Schärfe nach, daß ich, falls
mir aus der Hütte tatsächlich irgendwelche Gefahr drohte, bereits tot wäre, da
ich schließlich in den letzten zwanzig Sekunden im Türrahmen eine perfekte
Zielscheibe abgegeben hatte. Ich schob die Pistole in den Holster, trat ins
Wohnzimmer und tastete nach einem Streichholz. In dem kurz aufflammenden Schein
sah ich auf einem in der Nähe stehenden Tisch eine Öllampe. Ich hob das Glas ab
und hielt ein weiteres brennendes Zündholz an den Docht. Die Lampe begann
gleichmäßig zu brennen, und der Raum wurde in warmes Licht getaucht.
    Irgendwo hinter meinem Rücken
ertönte erneut das Wimmern. Ich fuhr herum und sah die Gestalt eines Mädchens,
in die eine Ecke des Kamins gepreßt, dahocken. Jemand hatte einen Eisenring in
die Wand über ihrem Kopf getrieben und dann das andere Ende des Stricks, mit
dem ihre Handgelenke zusammengebunden waren, durch ihn hindurchgezogen und
verknotet. In der Art und Weise, wie genau berechnet worden war, wie lang der
Strick sein durfte, damit sie weder aufstehen noch sich hinlegen konnte, lag
eine Bösartigkeit, die mir Schauder über den Rücken jagte. Ich nahm die Lampe
mit in die Küche, suchte dort ein Messer, kehrte in den Wohnraum zurück und
durchtrennte den Strick. Die Haut des Mädchens war an den Stellen, an denen der
Strick eingeschnitten hatte, aufgerieben und blutig. Im Augenblick, als ihre
Hände frei waren, fielen sie schlaff seitlich herab.
    Wenn Shoemaker Carmen Colenso so hätte sehen können, dachte ich zornig, dann wäre
ihm klargeworden, daß seine Beschreibung des Mädchens heute
morgen ausgesprochen schmeichelhaft gewesen war. Die Frau, die ich jetzt
anblickte, sah aus, als sei sie in vorgerücktem Alter. Ihr sprödes, schwarzes
Haar hing schlaff um ihr Gesicht, und um ihre geschlossenen Augen lagen
dunkelviolette Ringe völliger Erschöpfung. Ihr Atem ging flach und
unregelmäßig, und in kurzen Abständen drang ein Wimmern von ihren Lippen. Die pergamentfarbene Haut umgab straff gespannt die
Gesichtsknochen und verlieh ihrem Mund ein verkniffenes und eingesunkenes
Aussehen. Ich hob sie in meinen Armen hoch und trug sie zur Couch hinüber. Das
bedurfte keiner Anstrengung — ich hätte es mit einer Hand bewerkstelligen
können.
    Ich nahm die Lampe wieder mit
hinaus in die Küche, wärmte eine Büchse Hühnerbrühe, die ich dort fand, und
schüttete sie in eine von Sprüngen durchzogene Schüssel. Es dauerte
schätzungsweise zehn endlose Minuten, bis es mir gelang, Carmen Colenso durch Schütteln ihrer Schultern und monotone
Wiederholung ihres Namens dazu zu bewegen, die Augen zu öffnen.
    »Ich bin ein Freund, Miss Colenso «, sagte ich. »Alles wird jetzt wieder gut. Niemand
kann Ihnen mehr etwas antun.«
    »Freund?« Mit plötzlicher
Anstrengung richtete sie sich zum Sitzen auf. »Ich habe keine Freunde.«
    »Essen Sie das hier«, sagte ich
und schob ihr vorsichtig die Schüssel zwischen die Finger.
    Sie löffelte die Brühe langsam
in den Mund, ohne auf das zu achten, was ihr über das abgetragene Kleid floß,
das von vorhergegangenen Mahlzeiten bereits steif war. Als die Schüssel leer
war, ließ sie sie durch die Finger auf den Boden gleiten, während ihre leeren,
braunen Augen ohne zu blinzeln in mein Gesicht starrten.
    »Freund.« Ihr Kopf sank ein
paar Zentimeter weit nach vorne. »Sie gehören nicht zu ihnen! Sie ließen mich
die meiste Zeit über an die Wand gefesselt hocken, und wenn sie mich während
der Nacht allein ließen, hörte ich die Ratten rascheln.«
    »Erinnern Sie sich daran, wer
>sie< waren?«
    »Es ist alles so vage — wie
Gespenster, die ich vor mir sehe.«
    »Erinnern Sie sich an Ihre
Flucht aus dem Sanatorium?« Ich wartete, bis ihr Kopf noch etwas weiter nach
vorne gesunken war. »Es hat doch ein Fahrer im Wagen auf Sie gewartet?«
    »Leer«, sagte sie. »Ich setzte
mich auf den Fahrersitz, aber da waren keine Schlüssel. Dann war da plötzlich
etwas Scharfes in meinem Nacken —«
    »Erinnern Sie sich an etwas,
das Sie erlebt haben, seit Sie

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