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In grellem Licht

In grellem Licht

Titel: In grellem Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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Rückflug versuchte ich, alles durchzudenken. Das FBI
hatte eine Razzia durchgeführt und ein illegales
Vivifaktions-Labor gestürmt, das soeben dabei war, Cameron
Atulis Zellen zu plündern. Zumindest ein Teil dieses Prozesses
– die Daten des MOSS-Tanks und die Anlegung der ersten
Zellkulturen – war zu diesem Zeitpunkt bereits vollendet, und
einige Zellen waren schon unterwegs zu einer anderen
Örtlichkeit. Das wußte ich, weil später fertige
Hauttransplantate auf Shanas Schimpansen aufgetaucht waren. Was an
Haut und verwandten Zellproben in dem illegalen Labor
zurückgeblieben war, landete wie üblich beim Zentrum
für Seuchenkontrolle. Aber die Hoden befanden sich nicht
darunter. Hatte man auch sie – noch vor der Razzia – in das
Lagerhaus in Lanham geschickt, wo sie bei der Explosion in tausend
Stückchen zerrissen wurden? Oder hatte der Mann, den Shana mit
den Schimpansen auf dem Arm gesehen hatte, auch Cameron Atulis
fruchtbare Eier bei sich gehabt?
    Und wo war Shana wirklich? Wollte sich die böse kleine Hexe
davonmachen und so die Kaution verfallen lassen, die ich für sie
hinterlegt hatte?
    Mit einemmal war ich der ganzen Sache überdrüssig. Ich
war schließlich Arzt und nicht Detektiv. Ein Arzt im Sterben.
In diese Richtung sollte ich meine Energien lenken – auf die Art
und Weise, wie ich es Maggie und den Kindern beibringen sollte, auf
den Abschluß meiner Vermögensplanung, um sie so gut
versorgt zurückzulassen wie nur möglich. Darauf, die
allerletzte Sache gut zu machen. Wenn ich sterben muß, werde
ich der Finsternis wie einer Braut begegnen und sie in meine Arme
schließen… Shakespeare.
    Wir flogen über das Schlechtwettergebiet hinweg. Ich starrte
aus dem Fenster auf die grauen Wolken unter mir und versuchte daran
zu denken, was ich Maggie sagen sollte, die am nächsten Tag von
ihrer Schwester zurückkommen würde.
    Aber zu Hause angekommen, wurde ich wieder abgelenkt. Ich hatte
eine Nachricht von Van Grant, sowohl audio als auch visuell:
    »Entschuldige, daß es so lange gedauert hat, Nick,
betreffend diese Angelegenheit, über die wir unlängst
sprachen. Aber ich wollte so gewissenhaft wie möglich vorgehen.
Meine Leute haben alle staatlichen Dateien überprüft, die
es gibt. Jede einzelne davon. Keinerlei ungewöhnliche
Aktivitäten der Person, die du erwähnt hast. In welcher
Hinsicht auch immer. Wann auch immer.«
    In einer bedauernden Geste breitete er die Hände aus und
lächelte teilnahmsvoll vom Wandschirm herab – ein
Lächeln, das ich seit fünfzig Jahren kannte: warmherzig,
aufrichtig, vertrauenerweckend. »Tut mir leid, Nick. Aber ist es
nicht erfreulich zu wissen, daß zumindest ein Staatsbürger
ein völlig normales Leben führt? Ich wünschte, das
würde für mich auch zutreffen.« Er lachte leise in
sich hinein. »Gib acht auf dich, Nick. Und liebe
Grüße an Maggie. Helen und ich hoffen, euch beide wirklich
bald zu treffen.«
    Der Schirm erlosch. Mein Auge schmerzte und meine Wange auch; in
meinem Mund bildete sich eine wunde Stelle. Und plötzlich war
ich müde bis in meine Knochen: das Alter, die Mukor-Mykose, der
Stress, die Lügen. Alles, was ich wollte, war schlafen, je
früher desto lieber, und der einzige Grund, weshalb ich um
fünf Uhr nachmittags nicht zu Bett ging, war die Aussicht, darin
ohne Maggie einsam und zitternd wachzuliegen.

11
    SHANA WALDERS
     
    New York ist eine tote Stadt.
    Nicht, daß nicht was los wäre dort. Da ist viel los,
wenn’s einem nichts ausmacht, selber ziemlich tot zu sein,
hinterher. Auf der anderen Seite gibt’s eine Menge völlig
sichere, hochgestochene, langweilige Sachen: piekfeine Parties,
The-aaa-ta, die Oper, Wohltätigkeitsbälle. Ich weiß
das, weil ich von dem Moment an, in dem ich aus dem Zug steige, alles
daran setze, es zu erfahren. Aber was New York nicht hat, ist
geballte und trotzdem nicht bekloppte Aktivität für ein
Prachtstück wie mich. Zumindest kann ich sie nirgendwo
entdecken. Doch dann denke ich wieder, macht auch nichts, weil ich
ohnehin nicht deswegen hier bin. Außerdem sehe ich – so
angezogen wie ein dreckiger Junge, das Haar unter einen Helm gestopft
und die Kleider schlapp wie ein alter Schwanz – auch nicht
unbedingt nach Prachtstück aus.
    Um acht Uhr abends wird es dunkel, aber New York kratzt immer noch
genug Geld zusammen, um die Außenseite des Lincoln Center zu
beleuchten, und außerdem ist der Mond beinahe voll. Ich passe
perfekt in den Haufen, der um den ausgetrockneten

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