In grellem Licht
nickte, obwohl sie natürlich kein Wort verstand. Aber sie
hatte aufgehört zu weinen. Ihre großen dunklen Augen waren
samtweich, wie das Fell schwarzer Kätzchen. Hinter einem der
roten Sessel holte sie eine Großmama-Anna-Puppe hervor, eines
der Spielzeuge, die als Teil des >Projekts Patriot< ausgegeben
wurden. Die Jungen mußten früh lernen, die Alten
bereitwillig zu akzeptieren. Rosaria drückte die Puppe fest an
sich.
»Schätzchen, wer wohnt denn noch…«
»Aaiiihhaaaiii!« Ein schmerzlicher Aufschrei, der von
einer großen, dunklen Frau stammte, die durch die Tür
stürzte. »Abuelita! Aaiiihhaaaiii!«
Ich stand auf und trat einen Schritt zurück.
Die Frau – nicht älter als Anfang zwanzig –
ließ sich neben der toten Großmutter auf die Knie fallen
und begann zu jammern. Sie trug einen Firmenoverall, auf den die
Worte donovan electronics gestickt waren. Nach einer Minute legte ich
ihr die Hand auf die Schulter. »Junge Frau…«
Zu meiner Überraschung sprang sie auf und wirbelte herum.
»Wer sind Sie? Was machen Sie hier?«
»Ich bin Arzt. Ich habe Rosaria auf der Straße
gefunden; sie sagte, ihre Abuela hätte sie gerade
angezogen…«
»Auf der Straße? Sie haben sie auf die Straße mitgenommen?«
»Nein! Ich… Sie ist allein hinausgelaufen! Nachdem Ihre
Großmutter – Urgroßmutter? – gestürzt war,
nehme ich an! Ich wollte soeben…«
»Sie wollten gar nichts! Hören Sie? Wir brauchen keine
Kinderfürsorge!«
»Ich bin nicht von der Kinderfürsorge!
Ich…«
»Lassen Sie uns bloß in Ruhe!«
Sie machte einen Schritt auf mich zu. Ihre Augen blitzten vor
Haß. Sie war so groß wie ich, nur zwanzig Pfund schwerer
und fünfzig Jahre jünger. Ich zuckte zurück.
»Ich finde schon wieder jemanden, der auf meine Rosaria
achtgibt! Ihr werdet sie mir nicht wegnehmen und weitergeben an
irgendeine reiche Schlampe mit einem Mann ohne Saft in den Eiern, bei
denen das Glasröhrchen auch nichts hilft! Ist schon schlimm
genug, daß ich zwei Jobs machen muß, bloß um euch
alten Fürze zu erhalten! Mein Kind kriegt ihr nicht auch
noch!«
»Junge Frau, Sie…« Sie verstellen mir den Weg
zur Tür, wollte ich sagen; keine Ahnung, was sie zu
hören erwartete, jedenfalls verzerrte sie plötzlich
wütend das Gesicht und versetzte mir einen schwungvollen Hieb.
Ich verlor das Gleichgewicht und ging zu Boden, während ich die
linke Hand ausstreckte, um meinen Fall abzufangen. Meine Finger
krachten auf den Boden, und ich spürte, wie zwei davon
brachen.
Ein einziger Hieb. Sie stand keuchend über mir, und das
Entsetzen über das, was sie gerade getan hatte, schlich sich in
ihre Augen. Rosaria brüllte, die Nachbarn quollen aus ihren
Türen auf den Korridor, und aus der Ferne kam das Kreischen der
Polizeiflieger näher.
Und wir beide sahen einander durch den Krach rundum an –
durch den Lärm, über meine verletzte Hand und die tote
Großmutter hinweg, die Rosarias einzige Betreuerin gewesen war,
über das Wissen um ihren verzweifelten Kampf hinweg, ihr Kind
behalten zu können und es nicht den Wohlhabenden überlassen
zu müssen, die danach gierten. Wohlhabenden, die zum
Großteil so weiß waren wie all die alten Menschen, die
von dieser Frau mit nahezu fünfzig Prozent ihres Lohnes
unterstützt wurden. Das mehr oder weniger bankrotte Staatswesen
schützte zwar die Kinder, sorgte aber nicht für deren
Betreuung. Kinder sollten von ihren Familien umsorgt werden, lautete
die generelle Meinung. Nur das war der verantwortungsvolle Weg. Und
falls Familien nicht für ihre Kinder sorgen konnten oder wollten
– dann geben wir die Kinder eben den reichen weißen
Paaren, die nach ihnen lechzen.
Immer noch auf dem Boden liegend untersuchte ich meine Finger.
Ohne Röntgen konnte ich natürlich nichts Sicheres sagen,
aber ich hielt es für einfache Brüche. Draußen
verstummte die Sirene. »Schnell, nehmen Sie Rosaria«, sagte
ich leise. »Ich werde den Bullen sagen, daß alles in
Ordnung ist.«
Sie gehorchte. Aus Angst, denke ich, aus Hoffnung oder ganz
einfach deshalb, weil sie nicht wußte, was sie sonst hätte
tun können. Sie trat auf ihre Tochter zu und hob sie hoch; das
Kind vergrub das Gesicht am Hals der Mutter und klammerte sich
krampfhaft an sie.
Ich drängelte mich durch die finster gaffenden Nachbarn
hindurch, um den Polizisten entgegenzutreten. Meine Hand ließ
ich beiläufig hinabhängen, während ich überlegte,
wie ich der Polizei am besten erklären konnte, daß es zwar
eine Tote gab, daß
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