In grellem Licht
aber alles seine Ordnung hatte. Wie ich der
Kinderfürsorge am besten erklären konnte, daß, ganz
recht, Rosaria zwar niemanden hatte, der sich um sie kümmerte,
während ihre überarbeitete, unter der Steuerlast
zusammenbrechende Mutter sechs Zehnstundenschichten pro Woche in der
Fabrik schuftete, weil sie die Überstundenzahlungen brauchte
– daß aber alles unter Kontrolle war und nichts hier nach
einer behördlichen Intervention verlangte. Daß alles
bestens war.
3
CAMERON ATULI
Es gibt nur zweiundvierzig Menschen auf der Welt, und ich kenne
sie alle.
Keiner schaut mich irgendwie anders an, als ich, vom
Jungenflügel kommend, eilig durch die Gänge von Aldani
House flitze, weil ich schon wieder spät dran bin für das
Vormittagstraining. »Donnerwetter!« ruft Nathan, der selbst
zu dieser frühen Stunde schon einen forschen Tonfall schafft
– der Teufel soll seine schönen Augen holen. Melita nickt
mir förmlich zu: »Guten Morgen, Cameron.« Mit den
Schuhen in der Hand jage ich an Yong und Belissa vorbei, die mir
zulächeln. Als ob ich nie weg gewesen wäre. Als ob man mir
nie signifikante Teile meines Gehirns mit Bedacht und
größter Sorgfalt und unter großem finanziellem
Aufwand zugemauert hätte.
Was steckte in diesen Erinnerungen? Das werden Sie sich
tausendmal fragen, hatte mir Frau Doktor Newell mit
hüpfenden grauen Löckchen vorausgesagt, und jedes Mal
wird das erste Mal sein.
»Cameron!« ruft Rebecca, unsere Ballettmeisterin,
streng, als ich zu meinem Platz an der Stange renne. »Wie
entzückt wären wir gewesen, hätten wir Sie schon vor
fünfzehn Minuten willkommen heißen dürfen!«
»Es tut mir leid«, sage ich und widerstehe dem Impuls
hinzuzufügen: Was erwarten Sie denn von einem gelöschten
Hirn? Was Rebecca erwartet, ist, daß alle pünktlich zu
ihrer Übungsstunde erscheinen – oder zumindest alle im
Ensemble, die gegenwärtig auftreten. Einunddreißig
Tänzer. Ich nehme meinen Platz an der Stange ein.
»Plié!« ruft Rebecca. »Und eins und zwei
und…«
Einunddreißig Tänzer, einschließlich der
Schüler an der Aldani-Schule, die noch zu jung sind, um dem
Ensemble offiziell beizutreten. Dazu kommen Rebecca, Frau Doktor
Newell, meine Krankenschwester Anna und der Pfleger Saul, Yong, der
Sicherheitstechniker von Aldani House, die Angestellten Nathan, Joe
und Belissa – und Melita, die Managerin. Und natürlich der
weltberühmte Mister C. künstlerischer Leiter und
Choreograph. Zweiundvierzig, alles in allem. Die ganze Welt.
Wer lebte sonst noch in diesen gelöschten Erinnerungen? Das werden Sie sich tausendmal fragen.
»Linke Seite!« ruft Rebecca. »Und eins und
zwei…«
Ich habe das Aufwärmen versäumt, und meine Muskeln sind
kalt. So mache ich die Übungen an der Stange nur halbherzig, bis
meine Muskeln warm werden. Der Hauptübungssaal in Aldani House
ist lang und schmal und hat Stangen und Spiegel an beiden Seiten. Die
Fenster an der schmalen Südseite gehen auf den Vorgarten hinaus,
und von dort strömen köstliche Düfte herein: nach
Rosen und Lilien und anderen Blumen, die ein herrlicher Anblick
wären, würde Rebecca uns auch nur eine Sekunde Zeit lassen,
um hinauszusehen. Was sie nicht tut.
»Battement tondu… gut, gut… jetzt zum adage… Sarah, kante nicht in der Hüfte!
Füße auswärts stellen…! Joaquim, höher! Höher!«
Ich war zwei Monate weg und bin seit einem wieder da. Das hat man
mir zumindest gesagt. Man kann nicht drei Monate pausieren, ohne an
Technik einzubüßen. Aber ich bin biegsam und kräftig,
und die Technik kommt zurück. Ich spüre es.
Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt. Mein Name ist Cameron Atuli. Was
nur konnte ich getan haben – was konnte man mir angetan
haben –, daß ich mich zu einer
Gedächtnislöschung entschloß? Und daß Aldani
House, das immerzu die ihm von der Stiftung zugedachten Budgetmittel
strecken mußte, dafür bezahlte?
Mein Körper gibt mir keinerlei Hinweise, außer…
aber daran will ich nicht denken. Und eigentlich will ich nicht
wirklich wissen, warum meine Erinnerungen ausgelöscht wurden.
Ich kann immer noch tanzen. Und nichts sonst ist wichtig.
Der erste Traum kommt ein paar Tage später, früh am
Morgen, kurz vor dem Aufwachen. Ich renne, so schnell ich kann, und
habe solche Angst, daß ich kaum gerade schauen kann. Irgend
etwas verfolgt mich, und ich spüre, wie es näher kommt,
immer näher. Ich strauchle und blicke zurück, werfe die
Arme hoch, um mein Gesicht zu schützen, und höre
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