In grellem Licht
mich
schreien. Und was mich anspringt, ist - eine Katze. Ein
Kätzchen, das mir über die Hand leckt und schnurrt,
während ich mich zusammenkauere und brülle. In Todesangst
wache ich auf.
Ist das eine Erinnerung? Habe ich irgendwann einmal ein
Kätzchen besessen? Aber Erinnerungen aus der Zeit vor der
Operation dürften eigentlich gar nicht mehr durchdringen, nicht
eine einzige davon! Und weshalb sollte ich Angst haben vor der
Erinnerung an eine Hauskatze?
Ich liege allein im Bett und zittere. Und wieso bin ich allein im
Bett? Hatte ich früher einen Geliebten? Wen?
Ich spreche drei Sprachen. Englisch, Französisch und ein
wenig Cajun. Wieso kann ich diese drei Sprachen? Die Antwort ist wie
alle anderen Antworten auf persönliche Fragen, die sich auf die
Zeit vor meiner Operation beziehen, für immer meinem
bewußten Zugriff entzogen. Alle >autobiographischen
Erinnerungsabrufungen< werden vom sogenannten Gereonknoten im
temporalen Bereich des Großhirns koordiniert. Mein Gereonknoten
wurde >deaktiviert<.
Ich verfüge über sachliches Wissen (zwei und zwei ist
vier; Gerard Michael Combes ist Präsident; Aldani House
heißt so nach seinem Erbauer und Begründer der Stiftung,
einem Milliardär, der das Ballett liebte). Auch meine Kenntnisse
sind alle noch vorhanden: Ich kann sprechen, lesen, tanzen, weil
diese Dinge anscheinend auf andere Weise in meinem Gehirn gespeichert
sind. Was wir Ihnen verschafft haben, sagten die Ärzte, ist eine
künstlich herbeigeführte retrograde Amnesie – eine Art
verkehrte Alzheimer-Krankheit. Ich weiß nicht, was Alzheimer
ist, aber es interessiert mich auch nicht besonders. Ich kann immer
noch tanzen, und vielleicht wird einer der Jungen aus der Truppe mein
Geliebter.
Der Traum kann mir nichts anhaben.
Ich springe aus dem Bett und strecke mich. Das fühlt sich gut
an, das fühlt sich wundervoll an! Heute werde ich ein paar
Extraübungen an der Stange machen. Wir proben den Verlorenen
Sohn. Ich tanze die Titelrolle. Ich werde neben Rob an der Stange
Aufstellung nehmen; er ist so ruhig und sanft, und seine
Armbewegungen sind so wunderbar ausdrucksstark. Außerdem hat er
sehr schöne blaue Augen.
Ich ziehe meine Trainingssachen an und gehe hinunter in die
Küche, um Kaffee zu trinken.
Wir sind bei den grands battements an der Stange, als ich
Rob zulächle. Rebecca hat heute Morgen keine gute Laune und
bellt die Anordnungen nur so hervor:
Nach vor, zurück, plié! Wiederholung! Drehung! Während der Drehung gibt Rob mir das Lächeln
zurück – ein wenig unsicher, aber sehr reizvoll.
Spielerisch berühre ich seinen Hintern mit meinem ausgestreckten
Fuß. Rebecca merkt es – sie merkt alles, sie ist eine
erstklassige Ballettmeisterin – und brüllt: »Cameron!
Auf Ihren Platz!«
Ich bin auf meinem Platz. Ich bin glücklich.
»Möchtest du ein bißchen Spazierengehen?«
frage ich Rob nach der Übungsstunde. Er hat ein Handtuch um den
Nacken geschlungen, das genauso blau ist wie seine Augen. Sein Haar
ist schweißnaß und verfilzt, und schweißnaß
sind auch seine Kleider. Er nickt lächelnd.
Laut klappernd rennen wir die Hintertreppe hinab und hinaus in den
Garten von Aldani House. Die fast drei Meter hohe Mauer aus
SchaumStein umschließt eine Fläche von etwa
zwölftausend Quadratmeter. Ich habe keine Ahnung, wieso ich das
weiß. Das Hauptgebäude befindet sich dicht am Gartentor,
das ebenso stabil, hoch und undurchdringlich ist wie die Mauer.
Zwischen Haus und Tor blüht es im Vorgarten; an einer Seite
stehen Yongs Sicherheitsgebäude und die Wartungsschuppen. Hinter
dem Haus gibt es einen Rasen mit Plastiktischen und Stühlen und
einem Volleyballnetz, danach kommt der Gemüsegarten, wohin die
kleineren Schüler zum Arbeiten geschickt werden, wenn sie
ungezogen sind, und den Abschluß bildet ein Wäldchen aus
dichtbelaubten Bäumen mit Spazierwegen und Bänken. Dorthin
gehen Rob und ich. Die Luft streicht kühl über meine
erwärmten Muskeln, und sie riecht nach Kiefernnadeln,
Kirschblüten und Erdbeeren.
»Du hast eine wunderbare porte de bras in deinen
Arabesken«, sage ich. »Viel ausdrucksstärker als
meine. Ich habe dich im Spiegel beobachtet.«
»Dafür kannst du wirklich springen«, stellt Rob
fest. Das ist wahr. Ich habe die kraftvollsten und präzisesten
Sprünge der ganzen Truppe.
Wir schlendern durch das Wäldchen, bis wir zu einer Lichtung
vor der Mauer kommen. Dort, an der Mauer, die aussieht, als wäre
sie aus Naturstein gefertigt, steht eine Bank aus
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