In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
aber wieso habe ich nicht jemand anderem als Mutter erzählt, was ich gesehen hatte? Ich habe es jedenfalls nicht getan, und dies nicht, weil Mutter an mir zweifelte oder weil ich Maia keinen Ärger machen wollte – ihr plötzliches Verschwinden, das Mutter ebenfalls bezeugen konnte, bewies doch gewiss, dass sie in die Sache verwickelt war. Aber selbst wenn sie nichts getan haben sollte, um Martin Crosbies Tod herbeizuführen, hatte sie doch auch keine Anstrengung unternommen, um ihn zu verhindern. Nein, meine Gründe waren nicht so logisch. Tatsache ist: Ich habe nichts gesagt, weil ich so verwirrt war, verwirrt von der Ruhe des Meeres, verwirrt vom Licht und der Unwirklichkeit des Ganzen, verwirrt von dem Eindruck, den ich hatte, als ich Martin in dem Boot hinausfahren sah. Dass er nämlich in den letzten Minuten seines Lebens glücklich wirkte, so glücklich wie seit Wochen nicht, vielleicht glücklicher, als er es je gewesen war. Ich war verwirrt, weil ich den Gedanken nicht loswurde, dass er ertrinken wollte, und was immer ich gesehen zu haben glaubte und was immer ich meinte bezeugen zu können – was, wie ich einsah, doch etwas ganz anders war –, glich nur der leeren Hülle einer Erfahrung, etwas rein Äußerlichem, das nichts mit der eigentlichen Geschichte zu tun hatte, einer Geschichte, bei der es weder um Mord noch um Selbstmord ging, sondern um ein ebenso natürliches Ereignis wie einen Wolkenbruch oder den Zug der Vögel.
Der nächste Tag war regnerisch und wolkenverhangen. Über den Wiesen lag eine Dunkelheit, die alles aussehen ließ, als wollte es jeden Moment verschwinden, Watvögel flatterten aus grauer Luft auf und glitten kurz dahin, ehe sie wie durch einen altmodischen Zaubertrick wieder verschwanden. Windböen nahmen Gestalt an, wenn sie durch das Gras fuhren, nur um sich vor Zäunen und Banketten wieder aufzulösen; erst etwas, dann nichts, die ganze Küste und alles, was dazugehörte, nur eine Illusion. Von den tropfenden Birken am Gartenrand bis zu den Bergen am fernen Ufer des Fjords. An solchen Tagen blieb ich am liebsten daheim, machte es mir mit einem Bildband in einem Sessel gemütlich und lauschte dem Regen, der aufs Dach trommelte. Oder ich saß in der Küche, trank Kaffee und starrte hinaus in den grauen Himmel, genoss die reine Sauberkeit da draußen, die vor Wasser triefende Welt, in der die Farbe aus jedem Blatt und Grashalm gewaschen wurde, bis da nichts mehr war, nur noch Weiß und Grau wie auf einem Bild von Hammershøi. An diesem Tag aber blieb ich zu Hause, weil ich nicht ausgehen und riskieren wollte, Maia zu begegnen. Ich versuchte mir einzureden, dass sie die Insel bestimmt verlassen hatte, nun, da Martin fort war und sie nirgendwo mehr bleiben konnte, doch war ich mir eben nicht sicher. Und wo hätte sie sonst hin sollen? Ihre Mutter war Alkoholikerin, ihr Vater fort, was blieb ihr also außer der Hytte und den frischen Erinnerungen an einen Mann, dem sie beim Ertrinken zugesehen hatte, an einen Mann, den sie auf ihre Weise gewiss geliebt hatte. Ich sah immer noch diesen Blick auf seinem Gesicht, als er sich im Boot erhob, um im kalten Wasser zu verschwinden, und ich zweifelte nicht, dass Maia ihn ebenfalls bezeugen konnte. Alles, was ich gesehen hatte, sagte mir, dass Martin Crosbie glücklich gewesen war, als er starb – und ich konnte mir keinen anderen Grund für dieses Glück denken als das Mädchen, das ruhig am Ufer stand und darauf wartete, dass er im Wasser verschwand.
Noch lange, nachdem sich das letzte Kräuseln der Wellen verlaufen hatte, sah Maia zu – und ich weiß heute, ich hätte viel früher begreifen müssen, was geschah. Nach dem, was mit den Jungen der Sigfridssons passiert war, hätte ich ahnen müssen, in welcher Gefahr Martin schwebte. Ich hätte handeln müssen, sobald ich das Boot sah, hätte zum Bootshaus rennen oder auch nur laut über die Wiesen rufen müssen, um den Bann zu brechen, in dem sie beide gefangen schienen, hätte Maia so verängstigen müssen, dass sie ihn zurückrief – obwohl ich bereits wusste, dass nichts mehr getan werden konnte, als ich sah, wie sie das Boot über den Strand und ins Wasser zogen. Und wenn ich ehrlich bin, muss ich gestehen, dass sie schon in den ersten Momenten meines Begreifens nicht wissen sollten, dass ich ihnen zusah. Ich wollte keine Zeugin sein. Von Anfang an habe ich gewusst, dass dies das erste Gesetz der Beobachterin war: Sei nie eine Zeugin. Die wahre Beobachterin darf nur unter einer
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