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In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burnside
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mich an sich ziehen, mich trösten – und ein Anflug von Panik schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte kein Mitleid, wollte nicht getröstet werden – was er auch gleich verstand. Er zögerte kurz, die Hand auf meiner Schulter, dann fiel der Arm herab, und er stand da, sagte nichts, um meinetwillen seltsam bedrückt.
    Ich verzog das Gesicht zu einem entschuldigenden Lächeln und schüttelte den Kopf. » Mir geht es gut«, sagte ich. » Außerdem habe ich nicht …« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich fühlte mich traurig, aber ich hatte wirklich nicht wegen Martin Crosbie oder wegen der Jungen geweint. Auch nicht wegen Mutters Verrat oder weil sie nicht einmal begriff, dass sie mich verriet. Nein, in diesem Moment dauerte mich der alte Mann mit seinem unbeholfenen, mitfühlenden Herz – und vielleicht begann ich, über ihn und über mich selbst etwas zu verstehen, was ich zuvor nicht verstanden hatte. Natürlich wusste ich, welchen Eindruck ich hinterließ, etwa in der Schule. Dass man mich für kalt und arrogant hielt, weil ich ohne beste Freundin auskam und ohne diese Trophäe, den Freund, der am Samstagnachmittag mit seinem Mädchen in die Stadt schlendert. Man sah, dass ich nicht gefühlvoll war, nicht romantisch, sah, dass ich nicht nett war, aber mich hat es noch nie gekümmert, was andere von mir hielten. Ich hatte keinen Kreis enger Freundinnen, die genau wie ich waren, Mädchen, die dieselben Bücher lasen, sich dieselben Filme ansahen, dieselbe Musik hörten – so etwas wollte ich nicht. Ich wollte keine Freundinnen, und ich wollte keinen hübschen, maulfaulen Jungen, mit dem ich mich herumtrieb, stets mit dem leicht peinlichen Gefühl, dass er eigentlich nicht gut genug war, vorläufig aber herhalten musste. Ich hatte nicht einmal eine dieser ganz besonderen Ersatzfreundinnen, wie sie die Mädchen im Kino immer haben. Der unbekümmerte Behelf. Die schüchterne Streberin, die in der letzten Einstellung ganz heroisch rüberkommt. Ich war nur ich selbst und allein für mich. Die einzigen Menschen, an denen mir jemals im besonderen Maße etwas gelegen hatte, waren Mutter und dieser eigenartige, ein wenig verrückte alte Mann. Und während wir Bücher in Kisten packten, der Sommer zu Ende ging und all die Geschichten plötzlich zu düster und zu seltsam klangen, um uns trösten zu können, begriff ich mit einem Mal, dass er es war, dieser stets für selbstverständlich gehaltene, gute Nachbar, dieser etwas irre, einsame Alte, den ich schon immer geliebt habe. Er war der Vater, den dieser Ort mir gab, und er war mein einziger Freund, dieser peinliche Kerl mit seinen lächerlichen, wahren Geschichten über Trolle und Gespenster und seinem weit zurückreichenden, nebulösen Gedächtnis, einem Gedächtnis, das so alt und absonderlich war wie Ebbe und Flut.
    Ich schaute zu ihm hinüber. Er schielte mich über seine Brille hinweg einige Sekunden an, als wunderte er sich über die alte Komplexität, die plötzlich in einer jungen Frau zutage trat, die er ihr ganzes, kurzes Leben lang gekannt hatte, dann lächelte er. » An die Arbeit«, sagte er. » Uns geht’s bestimmt viel besser, wenn wir das hier erst aufgeräumt haben.«
    ***
    Ich weiß nicht, wie ich so naiv sein konnte, aber eine Zeit lang schien es, als hätte Kyrres Plan funktioniert. Die Hytte auszuräumen fühlte sich wirklich wie eine Teufelsaustreibung an, und in den darauffolgenden Tagen, in denen Mutter wieder allein in ihrem Atelier und Maia nirgendwo zu sehen war, begann ich zu glauben oder doch zu hoffen, dass der Sommer der Ertrunkenen endlich vorüber sein könnte. Drei Tage später aber – gerade hatte es den Anschein, als wäre alles wieder so wie früher – wachte ich erneut mit einem panischen Angstgefühl auf. Es war noch früh. Ich konnte Mutter in der Küche rumoren hören, wie sie ihren morgendlichen Tätigkeiten nachging, das Geschirr vom vorigen Abend forträumte, Kaffee machte, sich in einer Stille bewegte, die von gelegentlichen Unterbrechungen nur vertieft wurde. In diesen Momenten bekam sie ihre Ideen, hatte sie einmal gesagt, und auch wenn ich wusste, dass es zum einen ein Satz war, den sie sich für Journalisten zurechtgelegt hatte, glaubte ich zum anderen doch auch, dass sie diese Augenblicke wirklich liebte, und ich denke, manches von dem, was sie im Atelier tat, hatte seinen Ursprung in dieser Stille, kurz nachdem das Wasser im Kessel aufgekocht war, in der Stille, die sie empfand, wenn sie sich umdrehte und ein

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