In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
so fest entschlossen war, mir nicht die ganze Geschichte zu erzählen, dann musste sie ihre Gründe haben. Außerdem hatte ich alles, was ich benötigte, und in meinem Hinterkopf nagte dieser abergläubische Gedanke, dass auch nur ein Tropfen mehr das Fass zum Überlaufen bringen könnte. Schon mit sieben Jahren wusste ich, wer ich war und was ich brauchte – und vielleicht war das entscheidend. Vielleicht lehrte mich Mutter ebendiese eine Lektion, die mir ein Selbstvertrauen schenkte, wie wir es nur gewinnen, wenn uns genommen wird, was einmal wesentlich gewesen zu sein schien. Ich finde das fair. Ich lernte, ohne Vater zu leben, und war dabei ganz glücklich, denn ich brauchte keinen Vater – zumindest brauchte ich jenen Vater nicht, den mir der Zufall beschert hatte. Außerdem ist dies keineswegs die Geschichte einer armen Seele, die um eine anständige Kindheit und den üblichen, festen Zusammenhalt von Familie und emotionaler Unterstützung gebracht worden war. Ich habe eine wirklich glückliche Kindheit und Jugend gehabt, und es gibt für mich keine alternative Geschichte, die mir lieber gewesen wäre. Heute bin ich übrigens ebenso glücklich, ziemlich auf die gleiche Weise und aus den gleichen Gründen – eine Frau, die mehr oder minder allein lebt, Tochter einer Mutter, deren erste Liebe ihre Arbeit ist und dies auch bleibt, sowie eines Vater, der für sie eigentlich nie existierte. Ich war zufrieden mit dem, was ich hatte, und wenn ich etwas in dem Leben, wie ich es bis dato gelebt habe, ändern könnte, dann würde ich zu jenem Augenblick zurückkehren und diesen Brief und damit all das, was er nach sich zog, in ein Mittsommernachtfeuer werfen und zusehen, wie er in Rauch aufgeht.
Ich habe den Brief aber nicht ins Feuer geworfen – und obwohl ich keine Zeile mehr davon las, konnte ich in den nächsten drei Tagen an nichts anderes denken. Ich überlegte, eine kurze und höfliche Antwort zu schicken, in der ich Kate Thompson mitteilte, dass ich kein Interesse an der munteren Korrespondenz hätte, die ihr offenbar vorschwebte, und erwog, ob ich ihr schreiben sollte, dass ich, jedenfalls soweit es mich betreffe, keinen Vater hätte, aber das tat ich auch nicht. Ich dachte daran, mit dem Brief zu Mutter zu gehen, und ich frage mich heute, warum ich es unterließ, doch ebenso wenig, wie ich in die Pläne dieser wohlmeinenden Fremden verwickelt werden wollte – fröhliche Wiedervereinigung, Vergebung, Sündennachlass –, wollte ich Mutter damit ablenken. Sie hatte den Brief schließlich gesehen, mich in den folgenden Tagen aber nicht gefragt, von wem er war oder was darin stand, was ich nur als Hinweis darauf deuten konnte, dass man solche Briefe am besten ignoriert. Und genau das habe ich getan. Ich wollte diesen Brief nicht, und da ich nicht wusste, was ich damit anfangen sollte, legte ich ihn beiseite und versuchte mir einzureden, er sei niemals eingetroffen. Ich bin mir nicht sicher, was ich mir davon versprach, doch versteckte ich den Brief sorgfältig an einem Ort, wo Mutter ihn nicht finden konnte – und wartete. Mir lag nicht daran, grausam zu sein, aber ich spürte auch keinerlei Verlangen, in diese Sache hineingezogen zu werden, also beschloss ich zu glauben, dass sich diese Kate Thompson mit meinem Schweigen als angemessene Reaktion auf eine Nachricht abfand, die ich nie zu erhalten gewünscht hatte.
***
Es ist Mittsommernacht. Im ganzen Land werden Freudenfeuer angezündet, und man trifft sich im Süden am Ufer eines Fjords oder geht in Narvik oder Mosjoen zu einem offenen Platz, um wie jedes Jahr das Fest von Leben und Licht zu feiern. Das werde ich auch tun, hier auf dieser Insel im weißen Norden, von der die meisten noch nicht einmal gehört haben, fahre dreißig Kilometer die Küste entlang, um mit einer Handvoll Nahezu-Nachbarn, Fast-Fremden oder wer auch immer sich einfinden mag ein Ritual zu begehen. So habe ich es stets gehalten und werde es weiterhin tun, solange ich hier bin, womöglich für den Rest meines Lebens. Natürlich weiß ich, dass mein früheres Ich diese Vorstellung ein wenig seltsam fände, doch habe ich mich nun einmal so entschieden und bin meist ganz glücklich mit dem Gedanken, für immer hierzubleiben – auch wenn glücklich nicht genau das Wort ist, das ich suche. Jedenfalls bin ich glücklich genug an Abenden wie diesem, obwohl es ohne Kyrre Opdahl nicht so ist wie früher und wohl auch nie mehr sein wird. Kyrre war es, der mich zum ersten Mal zu einem dieser
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