In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
Landkarten; sie erkennen die Lücken zwischen den Dingen an und erheben stummen Protest gegen jene, die glauben, allein Verbindungen seien wichtig, gegen Menschen, die sich an andere wenden, nur um sie zu berühren, selbst wenn sie gar nicht berührt werden wollen, gegen Menschen, die unerwartete Briefe an völlig Fremde schreiben, nur weil sie glauben, das werde von ihnen erwartet.
Ich weiß nicht mehr genau, wann der erste Brief eintraf, aber ich erinnere mich noch, dass es etwa zu der Zeit gewesen sein muss, als Martin Crosbie kam. Beides passierte so knapp hintereinander, dass die Vorfälle für mich heute zusammenhängen, als hätte das eine das andere ausgelöst, obwohl es natürlich überhaupt keinerlei Verbindung gab. Ich weiß noch, dass ich Martin mehrere Tage lang nicht gesehen hatte – später erfuhr ich, er war an jenem Abend ins Bett gegangen, um sechsunddreißig Stunden durchzuschlafen, was vermutlich das allerletzte Mal gewesen war, dass er genügend Schlaf bekam –, und wenn ich zurückdenke, kann ich mir vorstellen, dass das, was ihm später widerfuhr, viel mit der Schlaflosigkeit zu tun hatte, die in jener ersten Woche seines Aufenthalts einsetzte. Er wurde beeinflussbar. Das wurden wir alle. Dazu kommt es hier hin und wieder. Und was den Brief angeht, bin ich mir sicher, dass er etwa zu der Zeit eintraf, als wir uns zum ersten Mal länger unterhielten, vielleicht auch kurze Zeit danach, also muss es gegen Ende der ersten Sommerwoche gewesen sein, und der Schock war groß genug – der Schock und die Ablenkung –, mich mehrere Tage in Atem zu halten. Mit einem Mal wollte ich nicht mehr spionieren, da mir war, als würde jemand mich beobachten, und auch wenn ich zugeben muss, dass ich vielleicht überreagierte, konnte ich damals die Angst nicht abschütteln, dass mich dieser Jemand für den Rest meines Lebens beobachten wollte. Mich beobachten und sich einmischen. Menschen mischen sich gern ein. Sie denken immer, sie müssten irgendwas tun.
Ich bekomme auch heute nicht oft Post, doch dürfte damals jeder Brief ein Ereignis gewesen sein – meist allerdings kein freudiges. Ich mochte Briefe nicht, und das Telefon mochte ich noch weniger – wer will schon mit jemandem reden, den er nicht sehen kann? Selbst wenn man sich direkt gegenübersitzt, fällt Reden schließlich schwer genug. Ein Junge aus meiner Klasse hat mir einmal eine Notiz geschickt, ich war vierzehn, und auch Mutter neigt dazu, mir Sachen per Post zu schicken – Überraschungsgeschenke und Postkarten –, doch kann ich mich nicht daran erinnern, selbst je einen Brief geschrieben zu haben. Ich habe dem Jungen nicht geantwortet – ich ging davon aus, dass er mir nur aus Spaß geschrieben hatte –, und auch wenn ich manchmal auf dem Küchentisch kleine Zeichnungen und Cartoons ablege, zusammen mit einer kurzen Nachricht, um Mutter wissen zu lassen, dass ich ausgegangen bin, musste ich noch nie einen Briefumschlag adressieren. Ehrlich gesagt, ich bin skeptisch gegenüber jeder Kommunikation mit der Außenwelt. Die meiste Post kommt natürlich für Mutter, und falls sie nicht gerade von Fløgstad ist, lässt sie die Briefe oft tagelang, gar wochenlang ungeöffnet liegen. Vielleicht habe ich meine Einstellung von ihr. Wie dem auch sei, ich hätte jedenfalls den Brief spontan fast in den Mülleimer geworfen und ihn vergessen. Er hatte nichts mit dem Leben zu tun, das ich führte. Er hatte auch nichts mit dem Leben zu tun, das ich führen wollte, und war im Grunde eine Zumutung. Trotzdem konnte ich ihn nicht einfach fortwerfen; also las ich ihn mit wachsendem Widerwillen und nicht geringem Ärger bis zu Ende, um dann noch einmal von vorn zu beginnen, wohl weil ich hoffte, ich hätte etwas falsch verstanden und das Ganze würde sich als Irrtum entpuppen. Denn es war ein Irrtum, jedenfalls soweit es mich betraf.
Der Brief – ein einziges weißes Blatt unliniertes Papier in einem glatten, cremefarbenen Umschlag – kam von einer Frau in England, die behauptete, mit meinem Vater zusammenzuleben. Ich war nicht da, als er abgegeben wurde, und da er an mich adressiert war, hatte Mutter ihn auf dem Küchentisch liegen gelassen. Noch während ich ihn las, wusste ich, dass sie, obwohl der Brief gänzlich unerwartet kam, nie danach fragen oder sonstwie auf etwas anspielen würde, was sie allein für meine Privatangelegenheit hielt. In dieser Hinsicht hat sie es schon immer sehr genau genommen. Sie ist ein Mensch mit endlosen, tief sitzenden
Weitere Kostenlose Bücher