In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
Skrupeln, die vor allem von dem Grundsatz bestimmt werden, dass sie, um jenen Raum in Anspruch nehmen zu können, den sie für sich und ihre Arbeit braucht, den Menschen in ihrer Nähe gleich viel oder auch mehr Raum zugestehen muss. Das ist nicht bloß eine Frage von leben und leben lassen, sondern ein viel subtilere, viel austariertere. Ständig ändert sich der Raum, den sie für sich braucht, und der, den sie gewährt; zudem reagiert sie nie gleichgültig auf irgendwas, findet aber Vergnügen am Verheimlichen ohne konkreten Anlass und genießt die Momente, wenn etwas unbemerkt, gar ungesehen durchschlüpft. Ein Brief aus England, der aus heiterem Himmel eintrifft, muss sie neugierig gemacht haben, doch verlor sie kein Wort darüber, und ich bin mir sicher, dass sie ihn, sobald sie sah, dass er an mich adressiert war, auf den Tisch gelegt und beschlossen hatte, nicht mehr daran zu denken.
Überraschend aber, zumindest im Nachhinein, ist die Tatsache, dass der Brief nicht viel preisgab und bei dieser ersten Gelegenheit auch nichts von mir verlangte – jedenfalls nicht direkt. Dennoch traf mich sein Inhalt wie ein Schock, denn nach achtzehn Jahren erfuhr ich nun von der Existenz meines Vaters und von seinen gegenwärtigen Lebensumständen; dies zudem von jemandem, der im sachlichen, distanzierten Ton einer neuen Brieffreundin schrieb, die nicht recht wusste, wie sie ein heikles Thema anschneiden sollte. Die Adresse auf dem Umschlag war mit der Hand geschrieben, der Brief selbst getippt, was ich unter den gegebenen Umständen merkwürdig fand. Genannt wurde der Name meines angeblichen Vaters – Arild Frederiksen, ein Name, der mir seltsam vertraut vorkam – und im Weiteren erklärt, dass er während der letzten achtzehn Jahre kreuz und quer die Welt bereist habe, erst als Auslandskorrespondent, dann als Reiseschriftsteller, jetzt aber krank sei, und die Verfasserin des Briefes – sie hatte mit »Kate Thompson« unterschrieben – wolle mich dies wissen lassen, wobei sie abschließend hinzufügte, sie hoffe, ich würde es nicht aufdringlich finden, dass sie mir aus diesem Anlass schrieb, und dass ich, auch wenn sie für mich eine Fremde war, in ihr doch eine wohlmeinende Fremde sehen möge.
Eine wohlmeinende Fremde. Sehr komisch. Wie konnte diese Frau glauben, sie meine es gut mit mir, wenn sie einen derartigen Brief schrieb und ihn aus heiterem Himmel an eine völlig Unbekannte schickte? Und was genau wollte sie eigentlich von mir? Natürlich ging ich davon aus, dass sie etwas wollte, sonst hätte sie nicht geschrieben. Und sie musste auf meine Neugier gesetzt haben, Neugier auf einen Vater, den ich nie kennengelernt hatte, ebenso wie sie offenbar gehofft hatte, dass ich auf eine Weise antwortete, die es ihr erlaubte, mir zu sagen, worum es bei diesem Etwas eigentlich ging. Sicher, ich hatte mich jahrelang gefragt, wer mein Vater sein mochte, und als ich klein war, hatte ich mir eingeredet, ihn eines Tages zu finden und heim zu Mutter zu bringen, obwohl Mutter mir immer wieder gesagt hatte, er sei nach Südamerika gezogen und sie wolle gar nicht, dass er zurückkomme, da sie mit mir glücklich sei, glücklich damit, wie wir beide lebten und nur taten, wonach uns der Sinn stand, und niemanden außer uns brauchten. Sooft ich nach ihm fragte – wo er jetzt lebe, wie er heiße und warum er fortgegangen sei –, hatte sie mir dieselbe Geschichte erzählt, eine auf das Wesentliche reduzierte Geschichte, frei von schmückendem Beiwerk: Er sei einen Sommer lang in Oslo gewesen, sie hätten sich eine Weile gekannt, doch sei er schließlich fortgezogen, etwa zu der Zeit, als sie schwanger wurde, worüber sie sich durchaus nicht beklage, da sie glücklich sei und hoffe, ich sei ebenfalls glücklich mit dem, wie es nun einmal war. Sie hatte mir nie etwas Greifbares erzählt, nichts, woran ich mich halten konnte, und ich hatte sie nicht weiter bedrängt. Als ich noch kleiner war, gab es eine Zeit, in der ich wirklich Antworten wollte. Ich stellte meine wenigen Fragen immer und immer wieder und bekam stets aufs Neue dieselbe vage Geschichte vorgesetzt, bedrängte Mutter aber nicht, bestand auf keinen Antworten, anfangs wohl, weil sie so entschlossen wirkte, und später, weil mir klar wurde, dass es mich einfach nicht mehr interessierte. Soll heißen, ich hatte aufgehört zu fragen, weil ich nicht geneigt war, etwas wissen zu wollen, das sie mir mit solchem Nachdruck nicht zu sagen gedachte. Ich vertraute ihr, und wenn sie
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