Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burnside
Vom Netzwerk:
Er lächelte und wiegte den Kopf. » Eigenartig, nicht? Da kann man eine Beschreibung in einem Buch lesen oder einen Film sehen und wird doch von allem überrascht.«
    » Von allem?« Ich fragte mich, was ihn noch überrascht hatte.
    » Eigentlich überrascht mich aber nicht das Licht oder die Gegend«, sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen, » sondern ich mich selbst. Die Art, wie ich hier bin. Dabei weiß ich, ehrlich gesagt, nicht einmal genau, ob ich tatsächlich hier bin. Vielleicht träume ich dies alles nur …«
    » Machen Sie sich mal keine Sorgen«, erwiderte ich. » Würden Sie dies alles nur träumen, wäre ich jemand in Ihrem Traum, und ich kann Ihnen versichern, ich bin leibhaftig da.«
    Er lachte leise. Eine Spur Traurigkeit klang in diesem Lachen mit, so als suchte ihn eine Erinnerung an glücklichere Zeiten heim. » Das antwortet Alice auch Zwiddeldum«, sagte er. » In Alice im Wunderland. Oder war es in Alice hinter den Spiegel n ? Ich bringe die immer durcheinander.«
    Er warf mir einen fragenden Blick zu, doch ich schüttelte den Kopf. Ich wusste, was er meinte – nicht in Wunderland, sondern in Hinter den Spiegeln trifft Alice auf Zwiddeldum, und Zwiddeldei beginnt zu weinen, als die beiden ihr den unter einem Baum schlafenden Roten König zeigen und behaupten, Alice sei nur eine Gestalt im Traum des Königs. Was ich immer komisch fand, weil ich wusste, ich hätte nicht geweint. Keine Träne. Ich wusste, ich war echt, so wie Alice hätte wissen sollen, dass, falls denn überhaupt jemand träumte, sie diejenige war, die sich all dies erdachte, den Roten König, die Krähen, die dummen, übergroßen Jungen, den Wald, in dem nichts einen Namen besaß. Die waren in ihrem Traum – und das hätte ihr zu denken geben sollen. Ich mochte die Alice -Bücher, kannte Wunderland aber besser, zumindest gefiel es mir besser als das Buch mit den Schachfiguren und gespiegelten Dingen. Mit Lewis Carroll habe ich Englisch gelernt; ich habe seine Bücher gelesen, Mutter hat sie mir erklärt, und ich habe sie viele Male gehört. Schon von klein auf wurde mir daraus vorgelesen, und zwar aus einer in England gekauften Ausgabe, einem alten, illustrierten, von Ward, Lock & Co. 1916 veröffentlichten Buch, aus dem Mutter immer und immer wieder las, bis ich ganze Abschnitte Wort für Wort kannte und sie zu ihrer Freude auswendig aufsagte. Es ist Jahre her, seit ich zuletzt einen Blick hineingeworfen habe. All diese Bücher meiner Kindheit, Geschichten aus der ganzen Welt, Märchen aus Frankreich und Spanien, die Schlacht der Kauravas mit den Pandavas in einer wunderschön illustrierten Ausgabe des Mahabharata, die Mutter in einem Secondhandladen in Lincoln fand, die alten norwegischen Legenden von Trollen und gespenstischen Frauen – es ist Jahre her, doch erinnere ich mich noch an die Bilder in dem alten Alice -Buch, an die verrückten Tiere in ihren komischen Kostümen. Vater Martin mit Anglerstiefeln und blauem Pullover, der einen überrascht dreinblickenden Aal auf der Nasenspitze balanciert, die Froschlakaien mit Dreispitz und rosarotem Frack. Ich erinnerte mich und wollte das sagen, war mir aber nicht sicher, ob ich wirklich verstand, was Martin Crosbie meinte, denn diese Alice-Geschichten hatten nie bewirkt, dass ich mich verträumt oder unwirklich fühlte. Ganz und gar nicht.
    » Nun«, sagte ich mit einem Blick in den Regen. » Dies ist wohl kaum ein Traum.« Mir war klar, wie lahm das klang, nur wusste ich nicht, was ich sonst sagen sollte: Ich fand, auf einer gewissen Ebene sollte es ein Spiel bleiben, all dies Gerede von Träumen und vom Verschwinden, und doch hätte ich in dem Moment kaum zu sagen vermocht, ob es auch stimmte.
    Er nickte, erwiderte aber nichts. Stattdessen drehte er sich um und schaute mit einem seltsam rätselhaften Lächeln auf den Fjord hinaus. Da ging mir auf, dass er recht hatte, dass Schlaflosigkeit tatsächlich nicht sein Problem war. Sein Problem hatte nichts mit dem Licht oder dieser Gegend zu tun, auch nicht damit, dass er so weit von daheim fort war. Er hatte dieses Problem bereits gehabt, ehe er herkam, und plötzlich begriff ich, dass er mehr über dessen wahre Natur wusste, als er zugeben wollte. » Sicher haben Sie recht«, sagte er. » Trotzdem bin ich irgendwie davon überzeugt, dass es nur die kleinste Anstrengung bräuchte, um dahinzuschwinden, auf diese Wiese hinauszugehen und sich einfach in Luft aufzulösen.«
    » Ja«, erwiderte ich. Das Wort » Anstrengung«

Weitere Kostenlose Bücher