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In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burnside
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Missverständnisse und der schlechten Aussprache.
    » Das hole ich mir als Nächstes. Wenn es Ihr Lieblingsstück ist, muss es das beste sein.« Er wirkte jetzt glücklich, auch wenn seiner Zufriedenheit etwas Merkwürdiges anhaftete, etwas spürbar Fiebriges. Er schaute sich um. » Möchten Sie noch ein wenig Tee?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    » Noch einen Kuchen?«
    » Ich bin satt, danke.«
    Er stand auf und ging in die kleine Küche zum Kühlschrank neben der Tür. » Ich habe Solo da«, sagte er. » Falls Ihnen das lieber ist.«
    Ich gab keine Antwort, jedenfalls nicht sofort. Während wir uns unterhielten, hatte ich eine Zeit lang meine Vorahnungen vergessen, jetzt aber kehrten sie zurück, und ich spürte deutlicher als zuvor, dass etwas Schlimmes bevorstand. Nur wusste ich nicht, was es war, und eine Zeit lang zweifelte ich, ob Martin Crosbie dieses Schlimme widerfahren oder er jemand anderem Schlimmes antun würde – jemandem, der so ahnungslos und verzweifelt war wie er selbst. Er öffnete den Kühlschrank und nahm eine Flasche heraus. » Möchten Sie eine Sol o ?«
    Ich mochte Solo nicht besonders – das Getränk war mir zu süß –, doch aus Gründen, die wohl etwas mit Mitleid zu tun hatten, vielleicht auch mit Angst, wollte ich sein Angebot nicht ausschlagen. Übrigens ängstigte ich mich nicht vor ihm: Ich hatte eher Angst um ihn, da sich in diesem Augenblick eine gänzlich unerwartete Verzweiflung auf seinem Gesicht zeigte. Verzweiflung und auch Furcht. Er fürchtete sich vor etwas – nur wusste ich nicht wovor, und vielleicht wusste er es selbst nicht. » Danke«, sagte ich. » Gern.«
    ***
    Ich war nicht zu Hause, als am nächsten Morgen der zweite Brief kam. Frank Verne war inzwischen wieder abgereist. Er war nur jene eine Nacht geblieben und hatte sich mit Mutter dann noch einmal in Tromsø getroffen, ehe er dahin zurückfuhr, wohin er gehörte, um seinen Artikel zu schreiben. Ich fragte mich, wie Mutter seine Abreise aufnehmen würde, hätte mir aber keine Sorgen zu machen brauchen. Nur Stunden später steckte sie wieder im Atelier, vergrub sich in ihre Arbeit und tat, als wäre nichts passiert. Natürlich begriff ich später, dass ich mich irrte, als ich glaubte, Frank Vernes Abreise würde sie nicht weiter berühren, doch damals wusste ich davon nichts. Was Mutter tat, stellte ich nie infrage – und ich fürchte, ich glaubte, ein Recht dazu zu haben; schließlich war ich ihre Tochter. Eine absurde Einstellung, was mir damals allerdings nicht klar war. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich mir um Kyrre Opdahl größere Sorgen als um Mutter machte, weshalb ich an jenem Morgen zu ihm lief, um ein altes Kinderbuch zurückzubringen, das er mir geliehen hatte. Ich hatte es monatelang behalten, nicht um darin zu lesen, sondern um mir die Bilder anzusehen, die eine perfekte, traditionelle Weihnacht mit Kerzen, Stechpalmenkranz und Melone tragenden Laternenanzünder auf kalten, grauen Straßen zeigten, kurz bevor der erste Schnee fiel. Es hieß Peters Jul, ein dänisches Buch aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts; Kyrre hatte mich eines Tages in seinem Haus darin blättern sehen und darauf bestanden, dass ich es mitnahm.
    » Vergiss die Verse«, sagte er. » Die sind nicht weiter wichtig, aber die Bilder lohnen sich.« Er lieh mir gern Bücher, da er wusste, wie ich es liebte, mir die alten Illustrationen anzuschauen, aber auch, weil er wollte, dass ich Interesse an der Kunst um ihrer selbst willen entwickelte, nicht nur, weil ich die Tochter einer Malerin war. » Du hast für so etwas ein gutes Auge«, sagte er oft, wenn er ein paar alte Bücher oder Drucke beim Herumwühlen in einer der großen Wäschekisten in seinem leer stehenden Zimmer gefunden hatte. » Schau sie dir an und sag mir, was du davon hältst.«
    Dieses leer stehende, halbdunkle Zimmer war für mich seit frühester Kindheit etwas Besonderes. Es war groß und steckte wie die verborgene Räuberhöhle in einem alten Zauberermärchen voll seltsamer Schätze. Kyrre Opdahl lebte schon lang allein, und über die Jahre hatte er haufenweise merkwürdigen, manchmal auch schönen Ramsch gesammelt – alte Maschinenteile und Uhrenlaufwerke, gewiss, aber die waren nur der Anfang. In diesem leer stehenden Zimmer, das ich nach Belieben durchstöbern durfte, fand ich Kisten mit altem, handbemaltem oder mit dicken Lamettastreifen behängtem Weihnachtsbaumschmuck; es gab Fahrpläne für lang vergessene Fähren, Gläser mit Nägeln und

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