In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
davon gerührt war. » Jede Reise sollte die letzte sein«, sagte sie. » Ich wartete immer darauf, dass er nach Hause kam, aber er fand, dass Reisen etwas war, was er tun musste. Auf seine Weise hat er versucht, die Welt zu verändern. Und wenn er sie nicht verändern konnte, wollte er doch, dass etwas geschieht. Wollte den Menschen etwas geben …« Sie blickte mich an – und einen Moment lang war mir, als wollte sie mich fragen, ob ich zu jenen Menschen gehörte. Fraglos hatte sie hinsichtlich Mutter schon ihre eigenen Schlüsse gezogen.
» Das muss ziemlich einsam gewesen sein.«
Sie lächelte. » War es«, sagte sie, » aber ich habe keinen Grund zu klagen.« Sie log, natürlich – sie hatte gelitten, da war ich mir sicher –, doch war sie stolz auf ihn, und es gehörte zu dem, was sie zu sein glaubte, was sie sein wollte, dass sie seine Entscheidungen niemals infrage stellte. Außerdem sah ich ihr an, dass sie jetzt froh war, da sie endlich die Geschichte erzählte, die sie erzählen wollte, die Geschichte eines selbstlosen Mannes, der sich unermüdlich für die Umwelt engagiert hatte, ein Mann, der auf der Suche nach dem Riesenlöwenzahn der Hochanden drei Tage ohne Essen und mit wenig Wasser durch Banditenland gezogen war, ein Mann, der, als man Salvador Allende ermordete, im Schutz der Nacht über die Berge aus Chile nach Argentinien fliehen musste, den Rucksack voller Samen und seltener Pflanzen. Der Mann, der auf der Suche nach vom Aussterben bedrohten Tulpensorten kreuz und quer durch Kriegsgebiete zog und sich aus Gefangenschaft oder Schlimmerem in den Sperrgebieten von Ländern herausredete, die es längst nicht mehr gibt. Der Mann, der nicht nur für seinen Wagemut und seine Beiträge zu unserem Verständnis von entlegenen Ökosystemen gelobt worden war, sondern auch für seine Bescheidenheit und den verhaltenen Humor, mit dem er Begegnungen mit Menschen und Pflanzen auf seinen diversen Reisen schilderte, zwar keine Bestseller, zu ihrer Zeit aber dennoch sehr beliebt. » Er hat so viele Risiken auf sich genommen«, sagte sie. » Auf ihn ist geschossen worden, und er konnte tagelang ohne Essen und Wasser auskommen. Einmal ist er von irgendeinem Warlord verhaftet worden und musste mehrere Tage in einer engen Zelle verbringen, mit nichts als einem Taschenschachspiel zur Ablenkung. Er hatte die weiße Königin verloren, weshalb er ohne sie auskommen und sich ihre jeweilige Position merken musste. Da er keinen Mitspieler hatte, spielte er gegen sich selbst und vertrieb sich so die Zeit …« Sie lächelte. » Später hat er lange nichts davon erzählt. Ihm drohte der Tod, aber er saß einfach nur da, merkte sich, wo die weiße Königin stand, und spielte Schach gegen sich selbst.« Sie schaute mich an, als erwartete sie oder als erhoffte sie sich irgendeine Reaktion.
Ich schüttelte mehr oder weniger ehrlich verblüfft den Kopf. » Das … ist wirklich erstaunlich.«
Sie nahm das Kompliment an seiner statt an und fuhr mit ihrem Bericht fort. » Er hat einmal gesagt, er schreibe, weil er uns alle tief in einen Wald führen und dort allein lassen wolle, damit wir sehen könnten, wie schön es dort ist. Er wollte die Menschen auf ferne Inseln entführen, auf die Hänge aktiver Vulkane, damit sie innehielten und anfingen, sich ernsthaft für die Welt zu interessieren. Er wollte, dass sie den Fernseher ausschalteten, die Dudelmusik, und die Realität sahen. Die Pflanzen waren für ihn nur ein Vorwand.« Sie lächelte glücklich, und ich glaubte, einen Moment lang hatte sie fast vergessen, dass der Mann, von dem sie erzählte, tot war. » Ich weiß, es klingt abgedroschen«, fuhr sie fort, » und bestimmt auch ein bisschen nach der Zeit des Wassermanns, aber das kümmerte ihn nicht. Er war nicht auf Geld aus oder Anerkennung, na ja, jedenfalls nicht auf die übliche Anerkennung …« Sie hielt inne und wählte dann mit Bedacht, so wie man es tut, wenn man allein ist, ein Zuckerstückchen aus der Schale aus und hob es an die Lippen. Dann verharrte sie einen Moment, steckte es sich schließlich in den Mund und lehnte sich zurück. Als sie diesmal die Augen schloss und eine Weile völlig in sich versunken dasaß, wusste ich, dass sie nicht nur mich, sondern alles um sich herum ausgeblendet hatte.
Ich sagte nichts. Ich dachte daran, sie einfach sitzen zu lassen – was machte es jetzt noch, wenn ich unhöflich wirkte? Im Krankenhausgarten am anderen Ende des Flurs setzte die Dämmerung ein, und es sah aus,
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