In ihrem Blut: Thriller (German Edition)
beiseitegewischt hatten, und der Square Mile, so solide, wie es ihr Name versprach, mit den ganzen Steinquadern und der gemeißelten Britannia mit den Löwen zu ihren Füßen. Die Göttin der Leidenschaft und des Krieges. Narrow ist der Weg und eng das Tor.
Berlin spazierte oft in die Vergangenheit und immer bei Nacht. Über den Narrow erreichte sie Wapping, und dann kam sie geradewegs in die Londoner City, wo sie einmal rechts abbog und zur blutgetränkten Erde von Newgate kam, Kompost für das düstere Gerichtsgebäude, das neue Old Bailey.
Sie bog um die Ecke und schrak zusammen. Irgendwer kam direkt auf sie zu, eingehüllt in einen langen schwarzen Mantel, im Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos zeichnete sich ein blasses Gesicht mit gehetztem Blick ab. Zugleich mit dem Fahrzeug entschwand auch die Gestalt, und Berlin lachte. Ihr eigenes Spiegelbild in einem Schaufenster hatte sie erschreckt. Sie wusste, dass ihre Angst berechtigt war. Sie selbst war ihr schlimmster Feind.
Von der Apotheke war sie zu ihrer Wohnung gegangen, hatte die sechs kostbaren Ampullen Diamorphin im Brotkasten versteckt und sich den Inhalt der siebten injiziert. Heroin.
Das war ihre Version eines Drinks am Ende eines langen Tages, obwohl sie nie behaupten würde, dass sie ihn zu ihrer Entspannung brauchte. Ihre Beziehung zu der Droge war komplexer und gleichzeitig einfach eine Sucht.
Die Aussicht, ihre kostenlose, legale und qualitativ hochwertige Versorgung zu verlieren, hatte sie in blinde Panik versetzt, verbunden mit kaltschnäuziger Verachtung für Lazenby. Sie war ein Ungeheuer. Seine Leiche lag in einer klebrigen Blutlache, und sie stahl die Rezeptformulare. Wie ein gewöhnlicher Junkie. Kein bisschen besser als der Junkie, der ihn ermordet hatte.
Sie hatte Lazenby nicht umgebracht, aber bezüglich ihrer Informantin verhielt sich die Sache anders. Sie wusste nicht genau, welche Rolle sie bei Juliet Bravos hässlichem, schrecklichem Ende gespielt hatte, aber zweifellos war sie darin verwickelt.
Zwei Leichen an einem Tag.
Das war eine alptraumhafte Gleichzeitigkeit, und ganz gleich, wie man es betrachtete, klebte Blut an ihren Händen. Jetzt blieben ihr nur sechs Tage, um einen anderen Arzt zu finden, der ihr Heroin verordnete. Sechs Tage, um Juliet Bravos Mörder zu finden.
Das schuldete sie ihr.
Sechs Tage, denn danach hatte sie keine Ahnung, wie sie funktionieren würde, falls sie keinen Arzt fand, keine neue Bezugsquelle und keinen Stoff. Wie würde der siebte Tag sein, falls es so weit kam? Der achte, oder – Gott behüte! – der neunte? Sie ahnte, dass sie dann kaum imstande sein würde, eine Fliege zu fangen, ganz zu schweigen von einem Mörder. Sie hoffte von ganzem Herzen, dass sie das nicht herausfinden musste.
Sie bog in die Dorset Rise und sah sich dem Denkmal des heiligen Georg mit dem Drachen gegenüber. Der Drache schien zu gewinnen.
ZWEITER TAG
9
Der erste schwache Hinweis auf etwas, das als Morgendämmerung an einem Tag Mitte Februar durchgehen mochte, streifte den Himmel, als Berlin von ihrem nächtlichen Spaziergang zurückkam. Sie drehte den Schlüssel im Schloss zu ihrem überteuerten »Studio« in Bethnal Green um und fragte sich, warum sie schließlich doch bei dem Ansturm auf Immobilien mitgemacht hatte. War sie die Leute leid gewesen, die ihr ständig einredeten, dass sie verrückt war, Miete zu zahlen, weil es »totes Geld« war? Oder war es ein letztes vergebliches Werben um Respektabilität?
Sie hatte teuer dafür bezahlen müssen, denn sie hatte das Studio auf der Höhe des Booms gekauft, kurz vor dem Crash. Jetzt hatte es stark an Marktwert verloren. Wenn man sie rausschmiss – wie lange würde sie überleben? Sie dachte an ihre 110%ige Hypothek, an das Gästezimmer bei ihrer Mutter und ihre persönlichen Angewohnheiten.
Keine gute Kombination.
Sie zog die Vorhänge zu, kroch unter die Bettdecke und schaltete den Fernseher ein. Lazenby hatte es in die Lokalnachrichten geschafft. Ein anonymer Anrufer hatte die Polizei auf üble Machenschaften in der Praxis hingewiesen. Der Arzt war eine bekannte Persönlichkeit im Stadtteil gewesen und hatte bei den Aktivisten für die Entkriminalisierung harter Drogen mitgemacht. Er besaß seine unorthodoxe Praxis seit über vier Jahrzehnten und war wegen Unregelmäßigkeiten in das Visier der Ärztekammer geraten. Eine Menge Drogen war gestohlen worden. Die Patienten von Dr. Lazenby kamen aus ganz London und aus Südengland, und die Polizei
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