In ihrem Blut: Thriller (German Edition)
Er war in Bethnal Green ganz auf sich allein gestellt und kümmerte sich um sein Geschäft. Aber er liebte es, immerhin. Nur die Nächte fand er manchmal ein bisschen zu lang.
Franks Anwesen bestand aus einem baufälligen, langweiligen Nachkriegsbungalow, eine weitläufige Ansammlung schweigender, rechtwinkliger Zimmer und fleckiger skandinavischer Möbel. Der Bungalow stand auf einem großen Grundstück zwischen lauter morschen Schuppen, Garagen und Nebengebäuden. Mittlerweile war das Grundstück ein Vermögen wert. Und ganz ohne Hypothek – Frank zahlte immer bar. Er hatte sich noch nie in seinem Leben Geld gepumpt.
Doyle musste das Tor hinter sich wieder zumachen und das Vorhängeschloss anbringen, sonst drehte Frank durch. Das Knirschen nervte Doyle kolossal. Zu gern würde er den Alten ein einziges Mal überraschen. Manchmal machte er das Vorhängeschloss nicht zu – ein kleiner Akt des Ungehorsams. Frank ging nie nach draußen, er würde es niemals merken. Er bekam sein Dosenfleisch, Teebeutel und alles sonst vom Supermarkt bis ans Tor geliefert, und Doyle bezahlte die Rechnungen.
Mannshohes Unkraut zu beiden Seiten verbarg die Sprengfallen und Glassplitter, die dort – wie Doyle wusste – auf dem Boden lagen. Man könnte denken, Frank würde da drinnen die Kronjuwelen horten.
Der alte Mann öffnete die Haustür, noch bevor Doyle ausgestiegen war. Er drehte sich um, während Doyle einen Gruß stammelte.
»Hallo Frank, wie geht’s?«
»Mach die Tür zu. Draußen ist es eiskalt.«
Doyle widerstand der Versuchung, ihm zu sagen, er solle die beschissene Zentralheizung aufdrehen. Frank lebte noch immer im Nebel von Zweiter-Weltkrieg-Sparsamkeit.
»Und ein bisschen Scheißrespekt. Ich bin vielleicht über achtzig, aber ich bin immer noch dein beschissener Vater.«
»Ja, Paps.«
Frank holte das Kassenbuch hervor. Früher hatte er es in einer Küchenschublade aufbewahrt, aber in letzter Zeit klemmte er es sich immer hinter den Gürtel. Er umklammerte es mit seiner zitternden Pranke.
Doyle dachte darüber nach, dass der Alte allmählich buchstäblich den Halt verlor. Aber die Muskeln seiner dünnen Arme waren immer noch straff gespannt wie Draht, die Knöchel große, rote Knochenhügel, hart wie Eisen. Er war zehn Zentimeter größer als Doyle, seine Augen lagen so tief in den schwarzen Höhlen, dass man ihre Farbe nicht erkennen konnte. Graue Haare kringelten sich in seinen Ohren und Nasenlöchern und verstärkten noch sein gnomenhaftes Aussehen.
Doyle überlief ein Schauder, als Frank ihm das Kassenbuch reichte. Er setzte sich an den Küchentisch, und Frank stand neben ihm und sah mit Adlerblick auf ihn hinunter, während er aus dem Gedächtnis die Rechnung aufstellte. Wenigstens musste er das nicht mehr ausnahmslos jeden Scheißabend machen. Er hatte sich geweigert. Jetzt musste er es nur noch an den meisten Abenden tun.
Als er mit der Auflistung fertig war, schnappte sich Frank das Buch und fuhr mit dem Finger an den säuberlichen Spalten von Namen, Adressen und Zahlen entlang.
»Schick die Jungs zu Nummer 51.«
»Schon gemacht.«
»Und?«
»Mach dir keine Sorgen, Fr… Paps – sie wird die Rate bezahlen.«
»Sagst du.«
Frank steckte sich das Buch hinter den Gürtel und klopfte zweimal darauf, weil das Glück brachte. Er streckte die Hand aus, und Doyle gab ihm eine dicke Rolle Banknoten. Frank grunzte und schob sie in die Tasche einer seiner Strickjacken. Er trug drei übereinander.
Doyle entspannte sich.
Frank hatte nicht die leiseste Idee, dass er das Geschäft erweitert hatte, sozusagen, mit einem Kapitalzuschuss seines neuen stillen Teilhabers. Wenn Frank das herauskriegte, würde er durchdrehen, und das war nie ein hübscher Anblick. Andererseits war es ganz egal, was Doyle tat, Frank würde nie zufrieden sein. Doyle wollte ihm einfach nur gefallen, doch er war nie gut genug. Aber jetzt würde er seinem Vater mal zeigen, wozu er imstande war. Initiative. Unternehmungsgeist.
Frank wandte sich ohne ein Wort um, verließ die Küche und drehte im Hinausgehen das Licht aus.
Doyle saß immer noch am Tisch.
Das war’s dann, dachte er. Noch ein Scheißtag, noch ein Scheißdollar.
»Gute Nacht, Paps!«, rief er.
Doch die einzige Antwort war eine zuschlagende Tür irgendwo am anderen Ende des Hauses.
8
Der Uferweg Narrow verlief nicht direkt parallel zum Ufer, er war eine unterbrochene Verbindung zwischen den hell leuchtenden, aufstrebenden Finanzinstitutionen, die die alten Docks
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