In ihrem Blut: Thriller (German Edition)
Massenpanik einsetzte. Zwischen Himmel und Hölle, wie er es nannte. Er erzählte ihr, wie er den erstickenden Druck auf seiner Brust gespürt hatte, ein Gefühl wie unter einem schweren, unaufhaltsamen Gewicht, als der Sauerstoff aus seiner Lunge gepresst wurde.
Er legte beim Reden immer die Hand leicht auf die Brust und atmete tiefer ein und aus. Als Kind hatte sie die eigene Hand auf ihre Brust gelegt und gefürchtet, sie bekäme keine Luft mehr. Sogar jetzt fühlte sie, wie ihre Brust enger wurde.
Dann hob er immer die Arme hoch über den Kopf und beschrieb, wie er mit ausgestreckten Armen unter der Welle der Leiber begraben wurde. An diesem Punkt der Erzählung war ihr als Kind klar geworden, dass sie, wäre er tiefer gesunken, nicht hier sitzen und ihm zuhören würde – ihre erste Ahnung von Nicht-Existenz.
Aber er versank nicht.
Eine Hand ergriff seine. Sie kam von oben, wurde zu zwei Händen, die sich um seine Handgelenke schlossen, und mit solcher Macht zogen und zerrten, dass er Angst hatte, ihm würde die Schulter ausgerenkt. Ihr Vater hatte getreten und sich nach oben geschoben und die Körper unter sich als Halt benutzt. Die Hände ließen erst los, als sie ihn über das Geländer gezerrt hatten und er nach Luft ringend auf dem Gehweg lag.
Als er aufsah, erkannte er, dass sein Retter ein großer, ungeschlachter Junge war, wahrscheinlich nicht viel älter als er. Der Junge betrachtete seinen eigenen Bauch. Die Spitzen des Eisengeländers hatten sich tief in sein Fleisch gebohrt, als er sich darüber gebeugt und ihren Vater in Sicherheit gehievt hatte. Aus den offenen Rissen troff Blut. Der Junge zog sein Hemd nach unten und grinste Berlins Vater an, der immer noch zu seinen Füßen lag.
Der Lärm von dem Chaos ringsherum schien aus weiter Ferne zu kommen. Die Schreie der unter den Toten Begrabenen wurden schwächer. Sirenen heulten, und der Junge war verschwunden.
Sie schloss ihre Wohnungstür auf und schlug sie hinter sich zu. Aber sie fühlte sich nicht sicher. Jahrelang hatte sie sich unsichtbar machen können, und jetzt wollte plötzlich jeder was von ihr.
Coulthard saß an ihrem Fall, Dempster hielt sie am Gängelband, Doyle kannte ihre Familie. Verdammt, Dempster besaß vielleicht sogar einen Schlüssel zu ihrer verfluchten Wohnung.
Sie machte kehrt und verließ das Haus wieder.
28
Dempster las zum dritten Mal die Zeugenaussagen durch. Sie stimmten grundsätzlich miteinander überein. Die Frau war aufgestanden, hatte die Waffe gezogen, »Mörder« gebrüllt, und dann hatte sie geschossen. Woran sich alle glasklar erinnerten, war das Geräusch, als ihr Genick beim Aufprall auf den Eichentisch brach. Sie hieß Merle Okonedo und war vor Kurzem aus der Psychiatrie entlassen worden. Aber es waren ihre anderen Verbindungen, die Dempster interessierten.
Er beugte sich über die baufällige Brüstung des Polizeireviers in Limehouse. Dieses Revier im West India Dock gab es seit 1897, als der Polizeibezirk noch den Dockarbeitern und Seeleuten aus aller Herren Länder gehörte: hart wie Stahl, Erben der Seefahrertradition der Piraten und der blutigen Gemetzel auf hoher See. Die Polizei konnte kaum die Stellung halten.
Daran hatte sich nicht viel geändert. Das jetzige Gebäude erinnerte Dempster an eine gestutzte Version des Sowjetischen Konstruktivismus. Der Bau war 1940 begonnen und nach dem Krieg fertiggestellt worden, gerade rechtzeitig, um der Nachkriegswelle an Verbrechen durch die Banden aus dem East End zu begegnen, die ihren Zenit in den Sechzigern mit den Krays erreichte. Sie hatten die Norm für Kleidung, Umgangsformen und Loyalität bestimmt, von der die derzeitigen Bewohner von Poplar nur träumen konnten. Aber was die Grausamkeit betraf, hatten sie längst gleichgezogen.
Der schmale Balkon, auf dem er stand, diente den Rauchern als Zuflucht, seitdem die Pubs und Cafés rauchfreie Zonen waren. Er fror sich hier draußen den Arsch ab. Sie hatten ihm im obersten Stock ein besenschrankgroßes Zimmer gegeben, weit weg von der Einsatzzentrale des Mordfalls Lazenby. Sie kannten ihn nicht, und sie trauten ihm nicht. Das beruhte auf Gegenseitigkeit.
Der DCI , der dem Team vorstand, hatte ihm geradeheraus erklärt, dass sie einer Verbindung von Lazenbys Mord zu Okonedos Tod im Rathaus nicht nachgehen würden, weil sie den als Unfall betrachteten. Aber auch bei dem Mord zeigten sie keinen besonderen Eifer. Ihrer Meinung nach war Lazenby ein unorthodoxer Arzt gewesen, der Junkies verwöhnte
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