In ihrem Blut: Thriller (German Edition)
Mutter gegangen ist und sie nicht mitgenommen hat.«
Die Ermittlerin in Berlin gewann jetzt die Oberhand »Und – waren Sie schuld?«
Doyle hob seine Hand himmelwärts und schüttelte den Kopf. »Ich schwöre es.«
Berlin hatte das Gefühl, dass er glaubte, sie wüsste mehr, als sie wirklich wusste. Das gab ihr einen taktischen Vorteil.
»Wenn Sie schon wissen, was ihre Motivation war, was wollen Sie dann von mir?«
»Ich will nur wissen, wie sie so war, als Erwachsene, meine ich.«
Berlin fiel kein Grund ein, warum sie ihm diesen schlichten, traurigen Wunsch nicht erfüllen sollte.
»Sie war klug, selbstsicher und gut gekleidet. Sie sagte, sie hätte einen Job in der City.«
In Doyles Augen standen Tränen. »Das war meine Gina. Blitzgescheit. Ich wusste immer, dass sie uns Ehre machen würde. Aber warum hat sie all diese Jahre gewartet, bis sie sich an mir rächte? Das begreife ich nicht. Warum jetzt?«
Das war eine verdammt gute Frage, fand Berlin. Vielleicht hatte ihr die Kampagne des Sonderdezernats die Gelegenheit geboten, auf die sie gewartet hatte. Gina hatte vielleicht gewusst, dass unerlaubte Kreditgeschäfte bei der Polizei keine Priorität besaßen. Sie hatte bestimmt ihre Hausaufgaben gemacht. Aber ein engagiertes Team und eine Hotline hätten da vielleicht einen großen Unterschied bedeutet.
Berlin schob ihren Teller beiseite. »Bedaure, Mr. Doyle, aber ich kann das wirklich nicht weiter mit Ihnen besprechen.«
Sie erhob sich, um zu gehen, aber er hielt sie am Arm fest. »Miss Berlin, ich will den kriegen, der mein kleines Mädchen umgebracht hat. Ganz egal, was sie mir antun wollte. Ich glaube, Sie wollen ihn auch fassen, denn auf eine bestimmte Art tragen wir beide die Verantwortung dafür. Wir könnten einander helfen.« Forschend sah er sie an.
Sie sah auf seine Hand auf ihrem Arm.
Er ließ sie los.
Doyle wartete darauf, dass sie etwas sagte, auf eine Spur von Gefühl. Umsonst.
Er holte einen Stift heraus, schrieb eine Handynummer auf eine Zeitung, die auf dem Tisch lag, und schob sie zu ihr. Sie berührte sie nicht, sondern schob den Stuhl zurück und ging zum Tresen zahlen.
Als sie die Tür öffnete, um hinauszugehen, redete Doyle weiter. »Sie sind von hier. Berlin war der Juwelier. Hatte früher seinen Laden weiter unten in der Straße.«
Sie machte die Tür wieder zu und ging zum Tisch zurück.
»Er hieß damals Berlinsky.«
»Sie haben den falschen Berlin«, sagte sie.
»Mein Vater hat Ihren gekannt«, sagte Doyle leise.
Er spreizte die Finger und zeigte seine Ringe.
Sie nahm die Zeitung an sich und ging.
27
Auf dem Rückweg durch die Bethnal Green Road kam es ihr vor, als schnappte etwas oder jemand oder vielleicht das Schicksal nach ihren Fersen. Das rückte ihr alles zu sehr auf die Pelle.
Der Laden war noch da, aber es war kein Juweliergeschäft mehr. Sie hatten darüber gewohnt. Sie überquerte die Straße, damit sie nicht daran vorbeigehen musste. Das Geschäft hatte ihrem Vater gehört und davor ihrem Großvater. Er hatte das Geld dafür zusammengekratzt, nachdem er aus Russland eingewandert war.
Nachbarschaft. Ein warmes, erstickendes Netzwerk. Doyle hatte ihren Vater ins Spiel gebracht und mit ihm das volle Gewicht einer gemeinsamen Geschichte. Sie ging am Eingang zum U-Bahnhof vorbei, und da war die Plakette an der Mauer. Es gab kein Entrinnen.
Berlin hatte die Geschichte so oft gehört, dass sie ihr wie ihre eigene Erinnerung vorkam.
Es war 1943 gewesen. Die Menschen liefen zum U-Bahnhof hinunter, der als Luftschutzbunker diente. Er war noch nicht fertig gebaut, und es hielten keine Züge dort. Die Menge war ziemlich diszipliniert, bis das Dröhnen unbekannter Explosionen ertönte. Die Armee im Victoriapark testete neue Artilleriewaffen, aber das wusste hier niemand. Die Menschen dachten, es wäre ein Luftangriff, und wurden von Panik ergriffen.
Eine Frau mit einem Baby stürzte, aber die Menschen hinter ihr drängten weiter. Sie trampelten die Stufen hinunter und hinterließen hundertzweiundsiebzig Tote, davon zweiundsechzig Kinder. Ein Schwerverletzter starb später im Krankenhaus. Man könnte sagen, sie wurden durch den Beschuss der eigenen Streitkräfte getötet, dachte Berlin.
Die Erinnerung ihres Vaters war lebendig geblieben. Er war fünfzehn gewesen, als es geschah. Gerade hatte er im Geschäft seines Vaters angefangen. Ein magerer Jüngling, ein Kümmerling, wie er sich selbst beschrieb.
Er war schon die halbe Treppe hinuntergerannt, als die
Weitere Kostenlose Bücher