In ihrem Blut: Thriller (German Edition)
sich aus einer Supermarkttüte voll Kokain, und am nächsten Tag hockte man im Zimmer über einem heruntergekommenen Pub in Hackney und spritzte sich billiges H. Mitglieder der IRA marschierten manchmal trommelnd herein und hielten einem einen Eimer für Spenden unter die Nase. Der harte Stoff wurde unten verkauft, konfisziert bei den irischen Dealern von Männern in Skimützen, die ihnen die Kniescheibe zerschmettert hatten.
Aber diese Zeiten waren längst vergangen. Die Leute von damals waren entweder tot oder besaßen ein Bed-and-Breakfast am Arsch der Welt. Oder sie waren Staatsanwälte, Topmanager oder Akademiker, die nicht an ihr früheres Leben als Partylöwen erinnert werden wollten. Jetzt züchteten sie ein paar Haschpflanzen in ihrem Ferienhaus in Wales und tranken teuren Rotwein.
Berlin gab die Schuld daran dem Drogenkrieg.
Ihre Verwandlung vom Freizeituser zum Berufsjunkie war übergangslos und unauffällig gewesen. Erst als ihre üblichen Verbindungen nicht mehr funktionierten und sie von blinder Panik überwältigt wurde, war ihr klar geworden, dass die Beziehung zwischen ihr und dem Stoff, die sie für locker gehalten hatte, jetzt ernst geworden war.
Es war Liebe.
Die Kälte betäubte den Schmerz, und ihr Verstand wurde etwas klarer. Sie merkte, dass sie im Windschatten des Sockels kauerte, der die Last des großen Eisentors von St. John bei der Kreuzung in der Nähe des U-Bahnhofs schulterte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie hierhergekommen war.
Sie spähte die Bethnal Green Road hinunter, aber Schnee wirbelte in dem schwefelgelben Licht der Straßenlampen und begrenzte die Sichtweite auf ein Minimum. Es war ihr wohl niemand von ihrer Wohnung bis hierher gefolgt, aber selbst wenn, würden sie sie nicht sehen können.
Das Wetter schreckte die Dealer und ihre Kunden nicht ab. In Steppjacken, T-Shirts und zerlöcherten Turnschuhen flitzten sie die Treppen zu den drei Eingängen hoch und runter, die zum Bethnal-Green-U-Bahnhof führten.
Sie sah, wie ein verzweifelter, klapperdürrer Teenie auf dem Weg nach unten eine Stufe verfehlte und gegen eine Frau prallte, die ein quengelndes Kind auf dem Arm trug. Er beschimpfte die Frau und lief weiter. Sie war beinahe gestürzt, hatte sich aber in letzter Sekunde am Geländer festgehalten und wieder gefangen, während das Kind losplärrte.
Berlin dachte an ihren Vater, der auf diesen Stufen gelegen hatte und von den Verzweifelten und Toten fast zerquetscht worden war.
Ihr war schwindelig, und sie lehnte sich an die Kirchentür. In der Kirche von St. John hingen vierzehn berühmte Gemälde: die Stationen des Kreuzwegs. Sie fragte sich, ob sie in ihrem ausgelaugten Zustand jetzt ein bisschen melodramatisch wurde.
Sie holte tief Luft und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Drogendeals in den kurzen Tunnels zu, die zur Fahrkartenhalle führten. Gerade außerhalb der Reichweite der Überwachungskameras.
Drei Wege führten in den Bahnhof hinein und drei hinaus.
Wenn die Polizei eine Razzia machte – und die erfolgten routinemäßig –, würden sie an jedem Eingang einen Mann postieren, und weitere würden hinter dem Fahrkartenschalter warten. So viele Bullen vor Ort würden dem erfahrenen Beobachter auffallen, und die meisten Dealer würden sich verdünnisieren und ein paar Neulinge dalassen, die es dann auf die harte Tour lernten. So war das eben.
Dabei standen die meisten Beamten vom Bethnal-Green-Revier auf Grußfuß mit den Dealern. Die Typen mit den Knarren und Messern beunruhigten sie viel mehr. Heroin folgte derselben Verkaufslogik wie alle anderen Waren. Wenn man die Dealer einbuchtete und der Nachschub knapp wurde, stiegen die Preise. Dann nahmen die Gewaltverbrechen zu.
Mit hämmerndem Puls stand Berlin auf, ging die paar kurzen Schritte bis zur Treppe und stürzte sich ins Wagnis.
Die kurzen Tunnels wurden durch die trübe Widerspiegelung des kalten Lichts auf den weißen Kacheln beleuchtet. Die leichte Krümmung der Wände vermittelte den Eindruck eines endlosen, unentrinnbaren Korridors.
Sie näherte sich einem großen, mageren Jungen, den sie schon bei vielen Deals beobachtet hatte. Er war höchstens fünfzehn, sein Gesicht tief in der schwarzen Kapuze und unter einer Baseballkappe verborgen. Er sah sie nicht an und nahm von ihrer Gegenwart keine Notiz.
»Ich such was. Kannst du mir helfen?«, fragte sie.
Der Junge sah sie noch immer nicht an. Er hob seine Arme in einer langsamen, ausladenden Bewegung, die zu sagen schien: »Was ist
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