In ihrem Blut: Thriller (German Edition)
Heute musste er unbedingt rausfahren, und sei es in einem gottverdammten Schlitten.
In Wahrheit war er ziemlich neben der Spur, die jüngsten Ereignisse hatten ihm ganz schön zugesetzt: Ginas Tod, Coulthards Flucht, dass er Fernley-Price zusammenschlagen musste. Er war völlig erledigt. Der gestrige Tag war in einem Nebel aus Fernsehen und Wodka verstrichen.
Er wählte Franks Nummer, hörte es läuten und wartete endlos lange. Er stellte sich vor, wie Frank mit finsterer Miene neben dem Telefon stand. Schließlich hob Frank ab, aber er sagte nichts.
»Paps, ich bin’s.«
»Was?«
»Die Straßen sind schlecht.«
»Warum erzählst du mir das?«
Verdammt noch mal, dachte Doyle. »Ich komme heute raus, Paps, egal, ob Hagel, Schnee oder Sturm.«
»Wär auch besser für dich«, bellte Frank und legte auf.
Doyle machte sich auf die Suche nach Aspirin.
Doyle parkte gegenüber vom Spielzeugmuseum in der Cambridge Heath Road, wo die Jungs auf ihn warten sollten. Er mochte dieses Museum. Da gab es immer jede Menge Zeug aus dem alten East End und genau die Spielsachen, nach denen er sich als Kind gesehnt hatte.
Er stieg aus und überquerte die Straße, die seltsam still war. Sonst strömten immer Busladungen von Kindern durch die Museumstüren, aber heute gab es nur einen unerschrockenen Touristen. Einen Augenblick lang stellte Doyle sich vor, wie es wäre, wieder ein Kind zu sein und zum ersten Mal hierherzukommen, aufgeregt und unschuldig.
Über der modernen Eingangshalle erhob sich das Dach aus Glas und Eisen. Doyle sah auf seine Füße. Als er das letzte Mal hier hineinspaziert war, hatte einer der Wächter ihm erzählt, dass die Marmorfliesen im neunzehnten Jahrhundert von Frauen aus dem Woking-Gaol-Gefängnis verlegt worden waren. Da hatte er an seine Mutter denken müssen. Er wusste, dass sie mehr als einmal gesessen hatte, obwohl Frank natürlich nicht darüber reden wollte.
Tränen traten ihm in die Augen. Die Frau hinter dem Tresen beobachtete ihn stirnrunzelnd. Er sollte besser den Abflug machen, bevor sie auf den Gedanken kam, dass er ein Kinderschänder oder ein Irrer war und die Polizei rief.
Als er zurück zum Auto kam, hingen die Jungs daneben ab und sahen aus, als wären sie gerade aus dem Bett gekrochen. Doyle warf einem von ihnen die Autoschlüssel zu.
»Wie spät ist es denn eurer Meinung nach?«, brüllte er.
Die Jungs stiegen belämmert vorn ein und er hinten. Sie fuhren in Richtung Hackney los.
»Also. Wir müssen heute Morgen ein paar Besuche machen, und ich will ein Ergebnis, ist das klar? Habt ihr die Wertsachen?«
Der Typ auf dem Beifahrersitz umklammerte eine Plastiktüte. Er griff hinein, holte eine Handvoll ausländischer Pässe heraus und hielt sie Doyle zur Inspektion hin.
»Gut«, sagte Doyle. »Hassans Mutter in Pakistan ist am Abnibbeln, und er will um jeden Preis zu ihr, deshalb bin ich mir ziemlich sicher, dass er das Geld heute ausspuckt. Fünf Riesen oder er kriegt seinen Pass nicht zurück und fährt nirgendwohin. Sagt ihm, dass seine alte Dame ihren Sohn ein letztes Mal sehen will. Bei ihm fangen wir an. Nummer einundfünfzig kommt zuletzt dran. Sie ist schon wieder überfällig.«
Die Jungs schnieften und kratzten sich und bereiteten sich auf den Kampf vor.
Der Tag verlief besser, als Doyle erwartet hatte. Es stellte sich heraus, dass das miese Wetter ein Pluspunkt war, weil die meisten Menschen in ihren Häusern blieben und dann ohne viel Gemaule bezahlten, weil sie nicht durch die Hintertür in den eisigen Schneeregen laufen wollten. Doyle pfiff die alte Bing-Crosby-Nummer »Let it snow, let it snow, let it snow«.
Hassan war abgehauen, als sie zum ersten Mal bei ihm anklopften, deshalb mussten sie noch einmal wiederkommen, was Doyle genervt hatte. Jetzt hatte Hassan anscheinend genug Mut zusammengekratzt, um seinem Gläubiger gegenüberzutreten; jammernd und schluchzend stand er da.
Er bettelte Doyle um seinen Pass an, damit er seine Mutter auf ihrem Sterbelager besuchen konnte, aber Doyle wusste, dass er Hassan keinen Gefallen tun würde, wenn er Gnade zeigte.
Da Doyle befürchtete, dass Hassan es sich in den Kopf setzen könnte, einen neuen Pass zu beantragen, sah er sich dazu gezwungen, härter durchzugreifen – natürlich in Hassans eigenem Interesse. Die Kniescheibe war ein sehr empfindlicher Teil der Anatomie, und nun bedeutete der Zustand von Hassans einer Kniescheibe, dass er eine Zeit lang nirgendwohin fahren würde. Seltsamerweise gelang es ihm
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