In ihrem Blut: Thriller (German Edition)
eher eine Art Friedensangebot. Morgen würde er sie vorbeibringen, aber das Original konnte er ruhig schon bei Thompson einwerfen. Dann brauchte er das nicht morgen zu tun.
Als er in die Einsatzzentrale, die für den Fall Doyle zuständig war, kam, sah er, dass das Büro, in dem sonst Thompson mit Flint saß, leer war. Ein Polizist hatte die Füße auf den Tisch gelegt und schwatzte ins Handy. Er rührte sich auch nicht, als Dempster sich vor ihm aufbaute.
»Wart mal kurz«, sagte er und seufzte genervt.
»Ich bringe hier eine Akte für DCI Thompson«, sagte Dempster.
Der Polizist blickte kurz zu dem Büro hinüber. »Er ist nicht da.«
Ein echter Witzbold, dachte Dempster. »Wann kommt er zurück?«, fragte er.
Der Polizist verzog verärgert das Gesicht. Er hob die Achseln. »Keine Ahnung. Morgen, denk ich.«
Dempster ließ die Akte auf Thompsons Schreibtisch fallen. »Geben Sie ihm das, sobald er kommt«, befahl er und ging.
Der Polizist wartete nicht, bis Dempster außer Hörweite war, bevor er seine Unterhaltung wieder aufnahm. »Tschuldigung. Ein beschissener Ziviler.«
Dempster überhörte die Frechheit. Die Einzigen, die in dieser Umgebung blühten und gediehen, waren korrupte Arschkriecher und Drückeberger.
Die Lautsprecheranlage knisterte, und Dempster hörte seinen Namen. Er wurde zum Kontrollraum gerufen.
Kontrolle war nicht gerade eine treffende Bezeichnung, als er das Zentrum der Revieraktivität betrat. Es war warm wegen der vielen Menschen und Computer, die man in dem kleinen fensterlosen Gelass zusammengepfercht hatte. An den Wänden hingen Bildschirme von Überwachungskameras, die die Krisenherde des Stadtteils zeigten. Beamte an Funkgeräten bellten Befehle, Telefone klingelten, und in einer Ecke bemühte sich ein Übersetzer an einer Freisprechanlage, einer verstörten Frau ihre Adresse zu entlocken.
Eine Sergeantin mit gehetztem Blick kam auf ihn zu. »Dempster?«
Er nickte, und sie drückte ihm einen Klebezettel in die Hand.
»Ein Anruf für Sie, Sie sollen sich bei dieser Adresse melden«, sagte sie und lief sofort zurück zu ihrem Arbeitsplatz.
»Worum geht es?«, fragte Dempster.
Sie zuckte mit den Schultern, setzte sich das Headset auf und fuhr mit ihrem Gespräch fort, während sie das Flimmerbild auf dem Monitor schärfer einzustellen versuchte. Darauf war ein Überfall zu sehen. Drei Jugendliche in Kapuzenpullis traten mit aller Kraft auf ihr am Boden liegendes Opfer ein. Mit ruhiger Stimme dirigierte die Sergeantin einen Krankenwagen und einen Streifenwagen zu dem Ort. Dempster sah die Jugendlichen den Schauplatz verlassen. Sie rannten nicht mal.
Aber als sein Blick auf die Adresse auf seinem Zettel fiel, rannte er los.
55
Die Beziehung zwischen den Lebenden und ihren Toten verändert sich ständig. Das hatte Berlin der Tod ihres Vaters gelehrt. Die Gefühle, die man für jemanden an seinem Todestag hat, ändern nichts an der Tatsache, dass man sich immer noch mit ihm streitet, ihn beleidigt, anbetet, verachtet, vermisst oder sich einfach freut, dass es ihn nicht mehr gibt.
Das kann sich täglich ändern.
Jahre später entdeckt man vielleicht Neues an den lieben oder nicht so lieben Verblichenen und an der eigenen Beziehung zu ihnen. Oder während man neben ihrem Sterbebett steht. Und man kann immer noch vor jemandem Angst haben, der tot und begraben ist.
Als sie Fernley-Price mit Gewalt von Ginas Leiche wegführte, hatte sie gesehen, wie ihm diese schreckliche Erkenntnis dämmerte. Angst, Reue, Wut, Liebe.
Berlin hatte Angst vor den Toten und dem Tod. Sie hatte eine sanfte, kalte Berührung aus dem Jenseits gespürt, als sie die Tür zum Ankleideraum neben dem Schlafzimmer in Fernley-Prices Apartment aufgeschoben hatte.
Ein matter Punktstrahler hatte über den Reihen von Anzügen, Mänteln und Kleidern in Plastikhüllen der Reinigung aufgeleuchtet. Dutzende von Schuhpaaren waren an einer Wand aufgereiht, die meisten kaum getragen. Darüber lagen auf einem Bord gestreifte Hemden mit weißen Kragen und Manschetten, frisch aus der Reinigung, sorgfältig eingeschlagen in Seidenpapier. Sie erkannte das Parfüm: der Duft der Toten.
Ihre Finger hatten die rosa gestreifte Hemdbluse kaum berührt, aber es traf sie wie ein elektrischer Schock. Sie hörte die Stimme der Frau, die sie als Juliet Bravo gekannt hatte, ihre präzise, klassenlose Intonation, die den Akzent verbarg, mit dem Gina Doyle im East End geboren und aufgewachsen war, lange bevor er trendy wurde.
Es
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