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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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befreien. Sein Durst ließ sich nicht löschen. Seine Vorderzähne konnten das kalte Wasser nicht ertragen. Er jammerte leise und trank mehr. Mehr.
    »Geht es Ihnen nicht gut?«
    Der Polizist hatte sein Lächeln wieder aufgesetzt, ein abstoßender Riß in seinem Gesicht. Karsten hatte ihn nicht kommen hören. Langsam erhob er sich, sehr langsam, ihm war schwindlig, und er klammerte sich noch immer an die Tischkante.
    »Doch, doch. Ich hatte nur Durst. Komme eben vom Joggen.«
    »Sie halten sich fit.«
    »Ja. Kann ich sonst noch … haben Sie noch weitere Fragen?«
    »Sie kommen mir ein wenig angespannt vor, wenn ich ehrlich sein soll.«
    Der Polizist hatte die Arme verschränkt. Seine Augen waren wieder zur Kamera geworden. Überall im Raum knipsten sie. Bei den Wandschränken. Der Kaffeemaschine. Dem Tranchiermesser. Bei ihm.
    »Das nicht«, sagte Karsten Åsli. »Ich bin nur ein bißchen müde. Ich war anderthalb Stunden joggen.«
    »Beeindruckend. Ich reite. Habe mein eigenes Pferd. Wenn ich so wohnen würde wie Sie …«
    Stubø zeigte auf das Fenster.
    »Dann hätte ich mehrere. Kennen Sie May Berit?«
    Er drehte sich um, als er das sagte. Das Profil des Polizisten zeichnete sich dunkel vor dem Wohnzimmerlicht ab. Das linke Auge, das Lügendetektorauge, war verborgen. Karsten schluckte.
    »Was für eine May Berit«, fragte er und wischte sich den Mund.
    »Benonisen. Sie hieß früher Sæther.«
    »Daran kann ich mich wirklich nicht erinnern.«
    Der Durst wollte nicht weichen. Seine Mundhöhle schien von einem Pilz überwuchert zu sein; die Schleimhäute waren klebrig und geschwollen und hielten die Worte zurück, die er sagen wollte.
    »Ihr Gedächtnis reicht ja wirklich nicht weit«, sagte der Mann, noch immer ohne ihn anzusehen. »Sie haben offenbar viele Frauen gehabt.«
    »So einige.«
    Ein Wort nach dem anderen. So. Einige. Das ging.
    »Haben Sie Kinder, Åsli?«
    Jetzt löste sich seine Zunge. Sein Puls verlangsamte sich. Das spürte er, hörte er, er hörte sein eigenes Herz, das in immer langsamer werdendem Tempo gegen seine Rippen schlug. Er atmete freier, der Würgegriff um seine Kehle lockerte sich, und er lächelte breiter, als er sich selbst sagen hörte: »Ja.«
    Dieser Mann war nicht schlimmer als die anderen. Er war einfach genauso schlimm. Er war einer von ihnen. Polizist Stubø stand hier und machte sich wichtig, während das Kind, das er suchte, fünfzehn Meter von ihm entfernt war, zehn vielleicht? Der Mann hatte keine Ahnung.
    Vermutlich war er nur von Ort zu Ort gefahren, von Haus zu Haus, um blöde Fragen zu stellen und sich aufzuspielen, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben. Das nannten sie dann Routine. In Wirklichkeit war es nur eine Methode, um die Zeit totzuschlagen. Auf der Liste, die er vermutlich in der Jackentasche stecken hatte, standen sicher viele Namen; der Mann griff sich immer wieder an die Brusttasche, als spiele er mit dem Gedanken, ihm etwas zu zeigen.
    Er war wie alle anderen.
    In seinen Gesichtszügen konnte Karsten Frauen und Männer sehen, alte und junge. Die Nase, gerade und ziemlich groß, erinnerte an die eines alten Schullehrers, der es witzig gefunden hatte, ihn in den Schrank mit Medizinbällen und Schwungkeulen einzusperren, bis der viele Staub ihn beinahe erstickte und er weinend flehte, herausgelassen zu werden. Stubøs Haare waren nach hinten gekämmt, wie damals beim Anführer der Pfadfinder; dem Mann, der ihm alle Abzeichen abgenommen hatte, weil er glaubte, Karsten habe geschummelt. In Stubøs Mund fand er Frauen, viele Frauen. Füllige Lippen, hellrot und weich. Mädchen. Frauen. Fotzen. Seine Augen waren blau, wie die der Großmutter.
    »Ich habe einen Sohn«, sagte Karsten und schenkte sich Kaffee ein.
    Seine Hände waren jetzt ruhig, solide Fäuste mit Holzsplittern, die sich in die Haut gebohrt hatten. Karsten fühlte sich stark. Er ließ einen Finger über den Schaft des Tranchiermessers fahren, die Klinge steckte zum Schutz in einem Holzblock.
    »Im Moment ist er mit seiner Mutter im Ausland. In Ferien.«
    »Ach. Sind Sie verheiratet?«
    Karsten Åsli zuckte mit den Schultern und hob die Tasse an den Mund. Der bittere Geschmack tat ihm gut. Der Pilz war verschwunden. Seine Zunge fühlte sich dünn an. Scharf.
    »Das nicht. Wir hatten nicht einmal eine richtige Beziehung. Sie wissen schon …«
    Er lachte kurz.
    Stubøs Handy klingelte.
    Das Gespräch dauerte nicht lange. Der Polizist klappte das Telefon wieder zu.
    »Ich muß los«, sagte

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