In kalter Absicht
vielen Zigaretten, vom modernen Leben und ungesunden Gewohnheiten. Es war kein Tisch für ein Kind.
»Sollten wir uns diesen Ton nicht verkneifen?« sagte Stubø leise. »Das hier berührt uns beide. Das und …«
Er verstummte, während der Pathologe sich gründlich die Hände wusch. Es war wie eine Zeremonie, als versuchte er, sich mit Hilfe von Wasser und Seife des Todes zu entledigen.
»Du hast recht«, murmelte er dann. »Tut mir leid. Gehen wir.«
Sein Büro lag gleich neben dem Obduktionssaal.
»Erzähl«, sagte Yngvar Stubø und ließ sich auf ein abgenutztes zweisitziges Sofa fallen. »Ich will alle Details wissen.«
Der Pathologe, ein magerer Mann, der auf die Fünfundsechzig zuging, blieb mit abwesender, halb überraschter Miene neben seinem Bürostuhl stehen. Für einen Moment schien er nicht zu wissen, was er hier wollte. Dann strich er sich über die Glatze und setzte sich.
»Es gibt keine.«
Das Büro hatte keine Fenster. Trotzdem war die Luft frisch, fast kühl, und überraschend geruchlos. Das schwache Rauschen der Lüftungsanlage wurde von einem fernen Martinshorn übertönt. Stubø kam sich eingesperrt vor. Hier gab es nichts, woran er sich orientieren konnte. Kein Tageslicht, keine Schatten, keine fliehenden Wolken verrieten ihm, wo er war.
»Bei dem Obduzierten handelt es sich um einen fünf Jahre alten, identifizierten Knaben«, hob der Pathologe an, als lese er aus einem unsichtbaren Bericht vor. »Gesund. Normale Größe, normales Gewicht. Die Angehörigen haben keine Krankheiten erwähnt, während der Obduktion wurden keine Krankheiten festgestellt. Die inneren Organe sind intakt und gesund. An Skelett und Bindegewebe waren keine Verletzungen nachweisbar. Es gibt auch keinerlei Hinweise auf äußerliche Gewalt oder andere zugefügte Schäden. Die Haut ist unversehrt, abgesehen von einer Schürfwunde am Knie, die offenbar älteren Datums ist. Mindestens eine Woche alt und somit dem Jungen vor seinem Verschwinden zugefügt.«
Stubø rieb sich das Gesicht. Im Raum drehte sich alles. Er brauchte etwas zu trinken.
»Die Zähne sind gesund und unversehrt. Alle Milchzähne noch erhalten, abgesehen von einem Vorderzahn im Oberkiefer, der nur wenige Stunden, ehe der Verstorbene …«
Er zögerte und änderte seine Formulierung. »… vor dem Tod des kleinen Kim herausgefallen ist«, sagte er leise. »Mit anderen Worten … mors subita.«
» Keine bekannte Todesursache«, sagte Yngvar Stubø.
»Genau. Er hatte zwar …«
Der Pathologe hatte rote Augen. Sein knochiges Gesicht erinnerte Stubø an das eines alten Ziegenbocks, vor allem, weil der Mann einen Spitzbart hatte, der sein Gesicht noch länger wirken ließ.
»Er hatte Diazepam im Urin. Nicht viel, aber …«
»Wie in … Valium? Ist er vergiftet worden?«
Stubø setzte sich aufrecht hin und legte die Arme auf den Sofarücken. Er mußte sich irgendwo festhalten.
»Nein, durchaus nicht.«
Der Pathologe kratzte sich mit dem Zeigefinger in seinem spärlichen Bart.
»Er ist nicht vergiftet worden. Ich bin zwar der Ansicht, daß ein gesunder Fünfjähriger überhaupt keine diazepamhaltigen Mittel einnehmen sollte, aber von einer Vergiftung kann hier trotzdem nicht die Rede sein. Ich kann natürlich unmöglich sagen, wie hoch die Dosis ursprünglich gewesen ist, aber zum Todeszeitpunkt waren nur noch winzige Mengen vorhanden. Nein, nie und nimmer …«
Er strich sich über das Kinn und musterte Stubø aus zusammengekniffenen Augen.
»… genug, um ihm zu schaden. Sein Körper hatte das meiste schon wieder ausgeschieden, falls ihm nicht wirklich nur diese lächerlich geringe Menge eingegeben worden war. Aber ich begreife nicht, wozu das gut gewesen sein soll.«
»Valium«, sagte Yngvar Stubø langsam, als enthalte dieses Wort ein Geheimnis, eine Erklärung, warum ein Junge von fünf Jahren so einfach ohne nachweisliche Ursache stirbt.
»Valium«, wiederholte der Pathologe ebenso langsam. »Oder ein anderes Mittel mit denselben Wirkstoffen.«
»Wozu sollte das gut sein?«
»Gut sein? Du meinst: Wozu setzen wir Diazepam ein?«
Der Pathologe schaute zum ersten Mal ärgerlich und warf ganz offen einen schnellen Blick auf die Uhr. »Das weißt du doch. Nervöse Leiden. In der Klinik wird es weitgehend präoperativ verabreicht. Man wird müde. Ruhiger. Entspannter. Auch Epileptiker werden damit behandelt. Bei schweren Krämpfen. Kinder und Erwachsene. Kim hatte aber keine solchen Probleme.«
»Warum sollte also irgendwer
Weitere Kostenlose Bücher