In kalter Absicht
einem Fünfjährigen …«
»Schluß für heute, Stubø. Ich bin schließlich seit elf Stunden im Dienst. Morgen bekommst du einen vorläufigen Bericht. Der endgültige wird wohl erst in einigen Wochen vorliegen. Ich warte alle Ergebnisse ab, ehe ich ihn einreiche. Aber insgesamt gesehen …«
Er lächelte breit. Hätte der Pathologe nicht diesen Ausdruck in den kleinen, engliegenden Augen gehabt, hätte Stubø ihm unterstellt, daß er sich amüsierte.
»… hast du ein verdammt großes Problem. Dieser Junge ist ganz einfach gestorben. Ohne irgendeinen nachweisbaren Grund. Und jetzt einen schönen Abend.«
Wieder schaute er auf die Uhr, dann schälte er sich aus seinem weißen Kittel und zog einen Parka an, der schon bessere Tage gesehen hatte. Als beide vor der Tür standen, schloß er mit zwei Schlüsseln ab und legte Stubø eine freundliche Hand auf die Schulter.
»Viel Glück«, sagte er trocken. »Du wirst es brauchen.«
Als sie am Obduktionssaal vorbeikamen, wandte Yngvar Stubø sich ab. Zum Glück goß es draußen wie aus Kübeln. Er wollte zu Fuß nach Hause gehen, auch wenn er über eine Stunde dafür brauchen würde. Heute war der 16. Mai, der Tag vor dem Nationalfeiertag. Es war kurz nach sechs. Aus der Ferne hörte er, wie eine Schulkapelle mißtönend und holpernd die Nationalhymne übte.
13
Etwas war passiert. Der Raum wirkte heller. Die bedrückende Atmosphäre eines altmodischen Krankenzimmers war verschwunden. Das Metallbett war dicht an die Wand geschoben worden und von einer bunten Decke und Kissen in vielen Farben bedeckt. Jemand hatte einen Sessel hereingetragen. In dem saß Alvhild Sofienberg, angezogen und mit den Füßen auf einem Hocker. Ihre Pantoffeln lugten gerade noch unter einer Decke hervor. Jemand hatte dem grauen Haarflaum neues Leben einhauchen können, eine weiche Locke fiel ihr in die Stirn.
»Du siehst viel jünger aus«, rief Inger Johanne Vik. »Alvhild! Du siehst richtig gut aus, wie du so hier sitzt!«
Das Fenster war weit geöffnet. Endlich war der Frühling gekommen. Der Nationalfeiertag hatte eine Frühsommerstimmung mitgebracht, die schon seit zwei Tagen anhielt. Der Zwiebelgeruch schien verflogen zu sein. Inger Johanne nahm statt dessen den Geruch feuchter Erde wahr, der aus dem Garten draußen aufstieg. Ein älterer Mann hatte kurz seinen Stoffhut gelüftet, als sie den Hof überquert hatte. Ein guter Nachbar, erklärte Alvhild Sofienberg. Hobbygärtner. Konnte nicht mit ansehen, daß ihr Garten verfiel, weil sie krank war. Ihr Lächeln wirkte jetzt weicher.
»Ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet, dich noch einmal wiederzusehen«, sagte sie trocken. »Du hast nicht gerade besonders begeistert gewirkt, als du zuletzt hier warst. Aber ich kann das ja auch verstehen. Mir ging es wirklich nicht gut. Es ging mir sogar sehr schlecht, wenn ich das so sagen darf.«
Sie warf den Kopf in den Nacken, korrigierte diese Geste aber sofort, indem sie sagte:
»Ich bin noch immer ernsthaft krank. Laß dich nicht in die Irre führen. Das seltsame ist, daß ich wochenlang das Gefühl haben kann, der Tod wartet schon draußen neben der Garderobe, worauf er sich dann ohne irgendwelche Erklärungen vorübergehend wieder verzieht. Vielleicht hat er im Moment andere Einsatzgebiete. Er wird schon wieder hereinschauen. Kaffee?«
»Ja, bitte. Schwarz. Ich kann das selbst, wenn …«
Inger Johanne wollte sich erheben. Alvhilds Blick hinderte sie daran.
»Noch bin ich nicht tot«, sagte Alvhild schroff. »Hier.«
Sie schenkte aus einer Thermoskanne ein, die neben ihr auf einem Beistelltisch stand, und reichte Inger Johanne eine Tasse aus edlem, fast durchsichtigem Porzellan. Auch der Kaffee war ziemlich dünn.
»Das mit dem Kaffee tut mir leid«, sagte Alvild. »Der Magen, weißt du. Ich kann fast nichts vertragen. Welchem Umstand verdanke ich die Ehre deines Besuches?«
Es war unglaublich. Als Inger Johanne beschlossen hatte, noch einmal bei der alten Dame vorbeizuschauen, war sie im Grunde sicher gewesen, sie nicht mehr lebend anzutreffen.
»Ich habe Aksel Seier gefunden«, sagte sie.
»Du hast es also geschafft?«
Alvhild Sofienberg hob die Tasse zum Mund, als wolle sie damit ihre Neugier verbergen. Diese Geste ärgerte Inger Johanne, aus einem Grund, den sie sich selbst nicht erklären konnte. »Ja, ich meine nicht in Person, aber ich weiß, wo er ist. Wo er wohnt. Und nicht ich habe ihn gefunden, sondern mein … egal. Aksel Seier wohnt in den USA .«
»In
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