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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Schachtel Pfefferminzbonbons hin. »Durchaus nicht. Hier, nehmen Sie eins. Stört Sie der Zigarrengeruch? Soll ich lüften?«
    Sie schüttelte den Kopf und lächelte kurz.
    »Nein. Das riecht gut.«
    Er lächelte ebenfalls. Er sah gut aus. Auf eine fast extreme Art gut; seine Nase war zu gerade, zu groß. Seine Augen zu tief, zu blau. Sein Mund zu scharf, zu wohlgeformt. Yngvar Stubø war zu alt für sein blendend weißes Lächeln.
    »Sie fragen sich bestimmt, warum ich mit Ihnen sprechen wollte«, sagte er munter. »Als Sie mich vorhin berichtigt haben … Seele des Verbrechens zu Seele des Verbrechers korrigierten, haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Genau darum geht es hier nämlich.«
    »Ich begreife nicht ganz …«
    »Warten Sie einen Moment.«
    Er drehte sich zu dem Foto des Pferdes um.
    »Sabra«, setzte er an und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, »ist ein gutes altmodisches Reitpferd. Heben Sie ihr ein fünfjähriges Kind auf den Rücken, und sie wird sich mit vorsichtigen Schritten in Bewegung setzen. Wenn ich sie jedoch selbst reite … wow! Ich habe viele Jahre lang Springturniere mit ihr geritten. Vor allem zum Spaß natürlich, richtig gut war ich nie. Worum es mir geht, ist …«
    Plötzlich beugte er sich zu ihr vor, und sie nahm den schwachen Pfefferminzgeruch in seinem Atem wahr. Inger Johanne war nicht sicher, ob sie diese plötzliche Intimität angenehm oder abstoßend finden sollte. Sie wich zurück.
    »Pferde haben angeblich keinen Farbsinn, habe ich gehört«, sagte er jetzt. »Das kann schon sein. Aber egal, was andere sagen, Sabra haßt alles, was blau ist. Außerdem haßt sie Regenwetter, verliebt sich immer ein wenig in rossige Stuten, ist gegen Katzen allergisch und läßt sich viel zu leicht von Autos mit mehr als drei Litern Hubraum ablenken.«
    Er zögerte einen Moment, neigte den Kopf ganz leicht seitwärts und fügte dann hinzu:
    »Tatsache ist, daß ich mir ihr Abschneiden immer erklären konnte. Weil sie eben so ist. Als … als Pferd einfach. Wenn sie eine Stange herunterriß, brauchte ich das nicht näher zu analysieren, wie es viele andere und seriösere Reiter tun. Ich konnte …«
    Er schaute von unten her zu dem Bild hoch.
    »Ich sah es in ihren Augen. In ihrer Seele, wenn Sie so wollen. In ihrem Wesen. Weil ich weiß, wie sie ist.«
    Inger Johanne wollte etwas sagen. Irgendein Einwand schien jetzt angebracht.
    »Hier arbeiten wir nicht so«, sagte er, ehe ihr etwas Passendes einfiel. »Hier gehen wir in die andere Richtung.«
    »Ich habe noch immer keine Ahnung, was Sie von mir wollen.«
    Yngvar Stubø faltete wieder die Hände, diesmal wie zum Gebet, und legte sie vorsichtig vor sich auf seine Schreibunterlage.
    »Zwei entführte Kinder und zwei zerstörte Familien. Meine Leute haben bereits mehr als vierzig verschiedene Proben zur Analyse ins Labor geschickt. Wir haben mehrere hundert Tatortfotos gemacht. Wir haben so viele Vernehmungen durchgeführt, daß die bloße Zahl Ihnen schon Kopfschmerzen verursachen würde. Fast sechzig Beamte arbeiten an diesem Fall, oder genauer gesagt, an diesen Fällen. In einigen Tagen werde ich alles wissen, was es über das Verbrechen als solches zu wissen gibt. Aber ich fürchte, daß mich das nicht weiterbringen wird. Ich will etwas über den Verbrecher wissen. Und deshalb brauche ich Sie.«
    »Sie brauchen das, was in den USA profiler genannt wird«, sagte sie langsam.
    »Genau. Ich brauche Sie.«
    »Nein«, sagte sie eine Spur zu laut. »Ich bin nicht die, die Sie suchen.«
    In einem Reihenhaus in Bærum sah eine Frau auf ihre Armbanduhr. Die Zeit war völlig aus der Bahn geraten. Eine Sekunde folgte nicht auf die andere. Eine Minute schloß sich nicht der anderen an. Die Stunden gerieten durcheinander. Sie schienen ewig und dann plötzlich ganz kurz. Sie kamen zurück, wenn sie endlich hinter ihr lagen; sie erkannte sie, es waren alte Feindinnen, die sie nicht in Ruhe lassen wollten.
    Die Angst an diesem allerersten Morgen war für sie beide etwas Greifbares gewesen. Etwas, das sie in einer Reihe von Telefonanrufen kanalisieren konnten, bei der Polizei, bei ihren Eltern. Im Büro. Bei der Feuerwehr, die vergeblich anrückte und überhaupt nicht in der Lage war, einen in der Nacht verschwundenen kleinen Jungen von fünf Jahren mit braunen Locken ausfindig zu machen. Lasse rief alle an, die ihm nur einfielen: das Krankenhaus zum Beispiel, das einen Krankenwagen schickte, ohne einen Patienten vorzufinden, den sie

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