In kalter Absicht
den USA ?«
Alvhild ließ ihre Tasse sinken, ohne den Inhalt angerührt zu haben.
»Wie … was macht er da?«
»Das weiß ich nun wirklich nicht.«
Alvhild hielt sich die Hand vor den Mund. Inger Johanne nippte an der hellbraunen Flüssigkeit in der blauen Tasse.
»Als ich das erfuhr, wunderte ich mich erst darüber, daß ein Vorbestrafter überhaupt in die USA einreisen darf«, sagte sie dann. »In dieser Hinsicht sind sie dort ungeheuer streng. Aber dann habe ich mir überlegt, daß die Bestimmungen Ende der Sechziger, als er hingegangen ist, vielleicht noch etwas lockerer waren. Doch so war das nicht. Tatsächlich ist Aksel Seier amerikanischer Staatsbürger.«
»Das ist damals nicht ein einziges Mal erwähnt worden …«
»Sicher nicht. Aber das ist ja auch kein Wunder. Er wurde in den USA geboren, als seine Eltern einen kurzen und mißlungenen Auswanderungsversuch unternahmen. Er behielt seine amerikanische Staatsbürgerschaft, obwohl er natürlich auch die norwegische hatte. Während des Prozesses hat das sicher keine große Rolle gespielt. Oder später, als die Begnadigung lief. Er ist vermutlich einfach vorschriftsmäßig gefragt worden, ob er Norweger sei. Und das war er ja. Ist er immer noch, um genau zu sein.«
Alvhild Sofienberg versank in Gedanken. Es war mucksmäuschenstill, und Inger Johanne fuhr zusammen, als die Tür geöffnet wurde und der Mann mit dem Stoffhut hereinschaute.
»Das muß für heute reichen«, brummte er. »Aber da draußen sieht’s unmöglich aus. Ich glaube, die Rosen kann ich nicht retten. Und der Rhododendron hat seine besten Tage auch hinter sich, Frau Sofienberg. Guten Abend.«
Er verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten. Im Zimmer war es jetzt kühler. Der Fensterflügel schlug hin und her. Alvhild Sofienberg sah sehr müde aus. Inger Johanne stand auf und schloß das Fenster.
»Ich spiele mit dem Gedanken, ihn zu besuchen«, sagte sie leichthin.
»Will er das? Würde er denn Besuch empfangen? Von einer wildfremden Wissenschaftlerin aus seiner alten Heimat?«
»Schwer zu sagen. Aber es ist zweifellos ein interessanter Fall. Und was mein Forschungsprojekt angeht, da … Aksel Seier zum Reden zu bringen würde für meine Forschungen ungeheuer viel bedeuten.«
»Na gut«, sagte die alte Dame. »Ich begreife wohl nicht so ganz … so richtig, was du genau vorhast. Mit diesen Forschungen.«
Als Inger Johanne zum ersten Mal von Alvhild Sofienberg gehört hatte – durch Vermittlung einer Kollegin, die privat mit Alvhilds Tochter befreundet war –, hatte sie den Eindruck gewonnen, daß die Kranke nur eine vage Vorstellung davon hatte, wie Inger Johannes Arbeit aussah. Alvhild hatte nie danach gefragt. Nie irgendein Interesse an diesem Projekt gezeigt. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit, und sie brauchte ihre schwindenden Kräfte, um Inger Johannes Interesse an ihrem Fall zu wecken, an der Geschichte von Aksel Seier. Alles andere war unnötig. Sie war fast siebzig und wollte ihre Zeit nicht mit Interesse an den Arbeiten anderer vergeuden.
Jetzt bekam ihr Gesicht neue Farbe, als sei sie nicht krank und schon gar nicht müde. Inger Johanne rückte mit dem Besuchersessel näher an sie heran.
»Ich gehe von Mordfällen in den Jahren zwischen 1950 und 1960 aus«, sagte sie und rührte achtlos in ihrem Kaffee herum. »Alle Verurteilten beharrten auf ihrer Unschuld. Niemand von ihnen hat diese Behauptung je widerrufen. Sie waren und blieben unschuldig, ihren Aussagen nach. Ich will nun nicht herausfinden, ob sie die Wahrheit sagten oder nicht. Aber ich möchte untersuchen, ob es Unterschiede im weiteren Schicksal dieser Menschen gibt, also was Haftzeit, eventuelle Begnadigung, Freilassung und mögliche Wiederaufnahmeverfahren angeht. Ganz kurz gesagt, geht es darum zu untersuchen, welche Rolle es für die Vorgänge im Rechtswesen spielt, ob sich andere, außenstehende Personen engagieren. Fredrik Fasting Torgersen zum Beispiel, du weißt ja, er …«
Inger Johanne lächelte verlegen. Alvhild Sofienberg war bereits erwachsen gewesen, als Torgersen der Prozeß gemacht wurde. Sie selbst dagegen war damals noch nicht geboren.
»… wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt, wegen des Mordes an einer jungen Frau. Seit über vierzig Jahren beteuert er nun schon hartnäckig seine Unschuld. Und bis heute haben andere, ihm anfangs unbekannte Personen einen unermüdlichen Kampf für diesen Mann geführt. Jens Bjørneboe zum Beispiel und …«
Wieder errötete sie leicht und
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